Katlogtext zu "Bernd Erich Gall · The End Of The Iron Age"

Im Spiegel des Geträumten


Von Franz Littmanm


Jeder Mensch - so Stéphane Mallarmé - trägt ein Geheimnis in sich. Man kann es verschlüsselt und verrätselt malen, aber über das Eigentliche kann man sich nicht austauschen. Weder über das veräußerte Geheimnis noch über das ästhetische Erlebnis.

Aber solange es Kunst gibt, werden Kunstkritiker und Betrachter nicht aufhören damit, ihre eigenen Absichten als das in den Werken Gemeinte wiederzuerkennen. Werden sie mit Worten zu sagen versuchen, was sich nicht sagen lässt: Das einfache, vorbegriffliche Dasein der Dinge, wo uns die Dinge alles sagen und doch gar nichts sagen. Wo alles einfach da ist. Wie beim Schatten. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit dominierten in der Malerei von Bernd Erich Gall vielfältig fragmentierte, langgezogene, kantige, obskure, bisweilen androgyne Frauenkörper. Sie wurden aufgesplittet, dupliziert, multipliziert, verzerrt, überdehnt; riefen Unheimlichkeit und Unbehagen hervor. In seinen neuesten Leinwand-arbeiten wird dieses bizarre, unwirkliche Szenarium nur noch angedeutet. Wie die Frauen am Ostermorgen stehen wir - mit den früheren Arbeiten im Hinterkopf - vor einem leeren Grab. Was man sieht, sind Reste von menschlicher Figur. Anspielungen auf jene multiplen Imaginationen einer multiplen Künstler-ldentität, von der lediglich abstrakte Formen und Kurven noch Bericht erstatten; ähnlich den Versuchen der italienischen Futuristen, die, in Kenntnis der Chronofotografien von Marey und Muybridge, Bewegungsabläufe phasenhaft in gemalte Bilder aufschlüsselten.

Auf die Assoziation an ein Grab kommt man, weil die chiffren- und schemenhaften Körperrückstände von aufgespachtelter, erdig-rußiger, physisch-sinnlicher Farbmaterie eingerahmt sind: in ein Viereck eingezwängte Bewegung, die in einem Spannungsver-hältnis steht zur haptisch-schwarzen, prinzipiell unendlichen Umgebungsfläche. Unwillkürlich denkt man an den Kontrast von Gegenwart und Abwesenheit, an vorweggenommene Intimitäten, die verborgen bleiben sollen wie Geheimnisse, die man in Kisten, Kästen, Truhen einschließt.

Bernd Erich Galls Malerei schlägt eine Umkehrung der Perspektive vor. Statt Identifikation und Wiedererkennung (wie normalerweise): eine Art Suchbewegung nach anderen Körper-Bildern, nach den Spuren „einer unteilbar flächenlosen Ausdehnung des Leibs" (Hermann Schmitz). Was dafür notwendig ist, macht der Künstler unmissverständlich mit den Titeln seiner Bilder klar: Voids, d.h. Leere. Erst die Ungültigkeit des Normalen und Gewöhnlichen (z.B. aus Bildern Informationen entnehmen) schafft Platz für „Außer-Ordentliches“.

Um dasselbe geht es - metaphorisch - wenn Bernd Erich Gall die Gehäuse von Radio-, Fernseh- und Computerapparaten öffnet. Eine Umprogrammierung von Hard- und Software, damit Urvertrautes und Verschwundenes zurückkehren kann. Wie das Moos, das in den ausgehöhlten Monitoren wuchert, sollen wieder Träume und Einbildungen ins menschliche Leben eindringen.

Das gelingt jedoch nur, wenn man den menschlichen Körper, der in der Moderne in eine Maschine verwandelt wurde, dysfunktional macht. Dieser Versuch scheitert, wenn man die Mittel der Moderne einsetzt. Wissenschaftlichkeit, Abstraktion, Technologie. Sind z.B. die Körper bloßer Trieb und reine Sex-Maschine, verwandelt sich Erotik in pure Fortpflanzung bzw. monotone Triebbefriedigung. Nur wenn die Körper Gegenstand der Imagination des Anderen sind, wird aus Erotik etwas Intimes. Wird aus Kiste, Sarg, Ehebett wieder ein Aller-Heiligstes. Bernd Erich Galls Bilder konstituieren so einen für diesen Zweck erforderlichen symbolischen Verwandlungsraum. Sie verweisen auf Korrespondenzen, die man erahnen, spüren, erschließen muss. Unmittelbar. Wem das gelingt, der kann auch alles andere verwandeln: Dinge, Zeiten, Personen, Räume. Sich selbst. Im Spiegel des Geträumten ist es wieder möglich, dass dem Träumenden sein Schatten erscheint. Sein Schutzengel, sein Gift. Das Geheimnis, das jeder in sich trägt.

Essay in: Bernd Erich Gall · The End Of The Iron Age. - Katalog, 4-farb., 40 S., 2000.
LA 2000 · © dada-schriftenreihe · Fotos: VG Bild-Kunst, Bonn · ISBN 3-00-005105-8