The End Of The Iron Age · Three Nights For The Price Of Two



Von Bernd Erich Gall


In einer Gesellschaft programmatischer Selbstverwirklichung und hyperkommunikativer/-konsumtiver Alltags-/Erlebniswelten (ohne moralische Zwänge) verbreitet sich immer mehr eine „Erschöpfung an sich selbst“. Der Druck, der Imperativ der Freiheit, der Zwang, sich selbst zu definieren, sich individuell auszudrücken, seinen Bedarf anzumelden, wird zur Repression, die Möglichkeit des Scheiterns zum Leidensweg, zur Paraklase. Inszenierte telekratisch-mythologische Erlebniswelten mit ihrem Gefühlspathos schaffen dabei wenig Ausgleich, da sie innerhalb einer Massenkultur Effekte vor Inhalten platzieren und die eigentliche Perzeption unter einer Bilderflut begraben.

Zwischen den Bruchstücken modernistischer Darstellungs- und Gefühlswelten etablieren sich zwangsläufig „Leer-Orte“ (Unorte) und Zwischenräume, die als subjektorientierte, objektfreie Daseins- und Handlungsorte Potenziale versprühen. Der Imagination des Vorbegrifflichen (als Gegengewicht der Vielschichtigkeit und „Multi-Begrifflichkeit“ des Alltags und dessen multiplizierenden, retardierenden Faktoren) wird Raum gegeben. Es entstehen Traumorte (Leerraum = Traumraum = res cogitans), die dem stress und strain der „Außen-/Um-/Welt“ (res extensa) entfliehen und neue Sichtweisen produzieren. „Wer wirst du diese Nacht sein im dunklen / Traum, auf der anderen Seite seiner Wand?“, setzt uns Jorge Luis Borges in den Kopf, wohl wissend, dass sich in der „Be-Deutung“ des Realen (als „Mach/t/welt“ der Vernunft) die Sicht nach innen wie nach außen verschließt. Eine Welt, die sich selbst für allzu real nimmt, verliert an Dimensionalität und geistiger Kraft: das Unerwartete wird zum Gegner, die Berechnung zum Komplizen konstruierter (Wahl-)Wahrheiten.

In Cyber-Zeiten bleibt das Fantasieren und Träumen nicht selten den Rechnern überlassen. Sie machen dies gründlicher und umfassender als jeder menschliche Geist und erschaffen halluzinierte Welten, in denen körperlos kommuniziert werden kann - von Geist zu Geist, von Rechner zu Rechner. Dem Mensch bleibt der Traum vom Traum. Sich über Naturgesetze hinwegzusetzen, um der Welt zu entfliehen, gelingt ihm im Wachzustand nicht. Am Ende landet er wieder bei einer Computer-High-Tech-Maschinerie, die ihm den „Traum vom Fliegen“ multivalent suggeriert, ihn bei Laune hält, ihn vom Betrachter zum „Mit-Macher“, zum beseligten Androiden avanciert.

Auch die Naturwissenschaften stützen sich immer mehr auf neurokybernetische Mensch-Modelle, die in ihrer Konsequenz auf Julien Offray de La Mettries (1709-1751) Gleichung „Mensch = Maschine“ hinführen. Das Gehirn wird als komplizierte Biomaschinerie beschrieben, die fest in das kausale Netz einer materiellen Welt eingewoben ist. Menschliches Verhalten definiert sich darin als Ergebnis der Korrespondenz einer informationsverarbeitenden Maschinerie (Gehirn) und eines Bewusstseins (Geist, Seele, Gefühle, Gedanken, Wünsche und Absichten). Für Freiheit im Sinne „kausaler Lücken“ (unverursachte Ursachen) ist wenig Platz. Der „mechanisierte Mensch“ verfällt immer mehr einer Apotheose globaler, dichtgepackter Positions- und Daseinsmuster. Er sieht sich weniger als spezifisches Individuum mit Anspruch auf Raum, als ein Teil einer Megalopolis, die ihm die Matrix für eine neue Art von Weltenformel (String-Revolution, Superstring, Theory of Everything) liefert, in der Raum, Zeit und Materie als Einheit immer abstrakter werden und einer kryptischen Programmiersprache gehorchen. Mit faustischer Neugier beobachtet er, wie ihn jene High-Tech-Maschinerie im Cyber-/Kommunikations-/Konsumraum „bespielt“. Als „Datenträger“ gerät er in einen paralytischen Dämmerzu-stand, in dem konsumtive Mechanismen (Three Nights For The Price Of Two) jedoch ausreichend Wirkung zeigen: Belohnungsrituale ersetzen Handlungsfelder. Am Ende steht der Rückzug aus dem Geschehen. Das Erlebnis wird vom Individuum abgekoppelt, der Innenwelt als mentale Plattform verschließt sich die Außenwelt. Dislokation und Absenz benetzen den Körper in seiner Raum-Zeit-Gefangenschaft, in der es kaum ein Erwachen gibt.

Besetzte Räume sind wie endlose Geschichten, die sich zu sich selbst addizieren, sich stereotyp vernetzen. Ihr apodiktischer Charakter obstruiert aleatorische Kreativ- und Produktionsprozesse. Geheimnisse gehen verloren, da alles berechenbar wird und in der „Weltenformel“ Platz findet, selbst der Mensch als Individuum. Der Übergang von einer individualistischen, intimen, abgegrenzten Menschheitskultur in eine maschinenabhängige Massenkultur ist längst vollzogen. Das Szenarium des „letzten Menschen“ beschreibt Nietzsche im Zarathustra als „die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinauswirft“. „Der Mensch wird reduziert auf das Allgemeine“, so Karl Jaspers 1931, und damit spricht er bereits von der Aufhebung des Individuums, des Subjekts: der Massenmensch wird zum Zitat. Prätentiös, stilisiert tummelt er sich auf einer medialen Weltenblumenwiese (all is pretty) und verwechselt diese mit agitativen Bewegungsfeldern und „Denk-Räumen“. Dabei verliert er den kosmischen Traum, in dem „alles existiert, was möglich ist (David Lewis)“ und schafft die Voraussetzung für den Sieg des Immergleichen über das Rätselhafte, Selbstfremde.

Auch der Dadaismus der zwanziger Jahre entließ das sublime „Individuum Kunst“ in den Alltag, um dessen Wirkungsweise innerhalb „unmarkierter Zonen“ zu hinterfragen. Wenn Warhol den Wunsch „ich möchte, dass jeder Mensch gleich denkt“ im Kunstraum platzierte, war dies eine Provokation, die Gedanken-/Verhandlungsräume öffnete: Öffnung statt Schließung, gerade darin liegt auch heute noch ein Ansatzpunkt künstlerischer Wirkungsweisen. Sich loslösen von Bildern, Gedan-ken, Stimmungen, Bewusstsein, Gewolltem wird innerhalb einer überladenen Medien- und Konsum-gesellschaft zum eigentlichen „Kunststück“. Produktive Prozesse erledigen und erschöpfen sich in einer gesättigten Umgebung.

Dekonstruktion, Disjunktion und Auf/bruch schaffen Suturen, die als Handlungs- und Traumorte neuzeitlicher Gesellschafts- und Darstel-lungsformen immer wichtiger werden. Sie schaffen Inhalte aus Leere, lassen Bewegung zu und dispensieren sich schließlich von Raum und Zeit. Innerhalb der globalen Migration einer Informations- und Konsumwelt bedeutet dies, dass der Mensch als Neben-/Marginalzeichen in unmarkierten Informationszonen (voids) zu einem unberechenbaren Faktor wird. Er situiert sich im Bereich der Unbestimmbarkeit. Abwesenheit und Unsichtbarkeit haften ihm plötzlich an und gerade dadurch gewinnt er wieder an Bedeutung und Wichtigkeit. Abseits von Konformismus und Massenkultur (Iron Age) wird er zur Unbekannten einer Matrix, die ohne ihn keine Lösungsformen/-formeln bildet, die mit ihm rechnen muss. Somit ist er wieder im Spiel.

Wenn die Konsum- und Informationsgesellschaft sich zum hostile environment transformiert, wird die Positionierung der Wahrnehmung zur Kalamität. Subjekt-Objekt-Beziehungen haben keine vektorielle Komponente mehr. Ich bin ich, du bist du, ich bin du, du bist ich - Subjekt, Prädikat, Objekt. Ich/Du weiß nicht mehr, wen es wahrnehmen soll: sich selbst, den Anderen, das Andere?, oder in welcher Funktion/Rolle es sich befindet: als Rezipient oder als Objekt der Wahrnehmung. Die mimetische Ich-Betrachtung im Spiegel, Traum, Surrogat, Konstrukt macht mich selbst zum Spiegel - das Ich verkommt zum Kommunikationsmittel im Informationskreislauf. Darin liegt die Falle der Perzeption. Am Ende betrachtet sie sich selbst. Das Gehirn wird zu einer informationsverarbeitenden Biomaschine, in der sich Geist und Seele als reine Gehirnzustände (neuronale Netze) definieren. Allzeit kompatibel stimmen sie ein in den Datenrausch neuzeitlicher Kommunikationslandschaften und verlieren an inhaltlicher Kompetenz. Die Folge: das kausale Netz effektvoller Ton-, Schrift- und Bildmedien inszeniert seinen Siegeszug innerhalb „markierter Zonen“ (Betrachtung der Betrachtung).

Im Rückzugsraum der Sinne verblassen alle neurokybernetischen Modelle. Rückzug schafft Leerraum, und Leerraum definiert sich als Ort der Platznahme, der Beziehungs-aufnahme im „freien Feld“. Das kausale Netz einer materiellen Außenwelt hat kaum Zugriff auf jenen Ort, da dieser aller Logik und Vernunft, Ursache und Wirkung entbehrt. Unverursachte Ursachen und Akzidensien bestimmen das Geschehen, eine Art Antizipation von Vernunft, die zur Individuation des Nichtidentischen führt, denn auch am Ende aller Logik steht die Unvernunft, das produktive Chaos, die Leere. Sie wird zum Chambre séparée, zum Auflösungszustand praller Alltags- und Ereignis-/Erlebniswelten. Mit einem allerorts angeführten Urzustand hat dies nichts zu tun, vielmehr mit dem Aufbruch zu einer neuen Gangart sektiererischer Marginalität.

In einer Zeit kommunikativer, konsumtiver und materieller Überflusswelten wird die Redundanz an mentaler Verfasstheit zum Luxus. Exogene Vielfalt dominiert vor endogener Konzentration. In der aktuellen Gegenwartskunst lässt sich (programmatische) Vielfalt kaum noch als headline ins Spiel bringen. Die leere Leinwand wird zum Sputnik der Ultima Ratio der Kunst/des Künstlers. Sie ist Aus-gangspunkt, Weg, Ziel zugleich. Sie duldet keine Indulgenz hinsichtlich eines gesellschaftlich verordneten Gefühlsdesigns und propagiert vakante Orte der Begehung. Seelisch-geistige Zustände bevölkern den „weißen Raum“. Der Wunsch nach einem permanenten login erschöpft sich in distanzierter Teilnahme.

„Voids“ stehen plötzlich für Inhalt, Aufbruch, Begehung, Handlung. Sie akzeptieren keine Vergangen-heitsfelder, keine kognitiven Festungen, keine Ziele und Zitate. Die Frage “was ist möglich?“ öffnet der Selbstbestimmung (Eigeninitiative, Agitation) Tür und Tor. Der Handlungs-raum wird zum Verwandlungsraum, zum Ort des Träumens, der „Vordinglichkeit“ und Intimität.

„I’m just another guy“, und damit verabschiedet sich der Künstler in die gegenwärtige Raumkonstellation, in der Leere zur Freiheit wird.



Essay in: Bernd Erich Gall · The End Of The Iron Age. - Katalog, 4-farb., 40 S., 2000.
LA 2000 · © dada-schriftenreihe · Fotos: VG Bild-Kunst, Bonn · ISBN 3-00-005105-8