Playground



Von Bernd Erich Gall



Schwebezustand

Die massenmediale Bilderflut der Neuzeit gründet ihren Siegeszug in der Aphasie und Urteilsenthaltung gegenüber apokryptischen Szenarien. Trieb, Begehren, Zeugungs- und Lebenswille erhalten in der Welt der schnellen Bilder, Worte und Relationen einen affektiven Charakter, der den Betrachter/Zuhörer entwertet, dekodiert und verletzbar macht. Die aktuelle Kunstlandschaft muss (phänomenologisch betrachtet) auf jene gesellschaftsrelevanten Veränderungen reagieren. Neue Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Hinterfragungsformen sind notwendig. Was hat der Kunstraum der strategischen Vorgehensweise einer medialen Ereignislandschaft entgegenzusetzen? Warum reicht die Dekodierung der Bilder nicht mehr aus? Wie bewerte ich Aktualität, Schnelligkeit, Bild- und Sprachkodierung innerhalb gesellschaftlicher und politischer Ereigniswelten? Inwieweit bediene ich mich der Technologisierung (optisches Vehikel)? Wie gewichte ich das Verhältnis Mensch/Maschine?

Politisch, soziologisch, inhaltlich bewegen wir uns auf Subjekt- und Objektebenen, die wirkungslos (wirklichkeitsfern) sind, wenn Subjekt und Objekt sich auf inszenierte Beziehungen einlassen. Innerhalb der medial überzeichneten Welt verliert das „freigelegte Subjekt“ an Persönlichkeit. Das metaphysische Fundament des Einzelnen manövriert sich in einen Schwebezustand, d.h. in die eigene Wirkungslosigkeit, denn gegenüber dem technologischen Pragmatismus einer telematischen Weltzivilisation kann es kaum in die Waagschale geworfen werden. Wenn Subjekt- und Objektebenen an Wirkung verlieren, wird es für künstlerische Ausdrucksformen schwierig, sich inhaltlich und formal zu platzieren.

Die massenmediale Präsentationsflut bietet der zeitgenössischen Kunst jedoch eine Schnittstelle, um sich ohne großes Aufsehen am Geschehen zu beteiligen. Leinwandarbeit, Skulptur, Fotografie, Installation, Medienkunst beleben über ihre bildnerischen, bildaktiven Ausdrucksmittel das große Spiel. Eigenwillig und unberechenbar kokettieren sie mit der Bildmaschinerie „Entertainment“. Die Bildbegegnung wird zum Playground und zur wirkungsvollen Metaphrase eigener gedanklicher Inhalte. Bildinformationen und subjektbezogene Sinnesempfindungen kommen sich näher und favorisieren damit die Erlebniswirklichkeit und den Durchbruch in sektiererische Wirkungsfelder. Kunst ist nicht gefordert, Souveränität zu entwickeln, sich Stellungen zu erobern. Was zählt ist, im Spiel zu bleiben, um der Simulation nicht ganz ausgeliefert zu sein. Aktuelle Geisteswelten haben dies versäumt, denn es genügt nicht, das ontologische Spiel zu eröffnen. Zeitgemäße Erscheinungsformen müssen mit eingebracht werden, z.B. die eigene Unberechenbarkeit.




Alles ist gut

Die Position zeitgenössischer Kunst innerhalb einer pulsierenden Informations- und Nachrichtenwelt ist die des „Ichs“, das sich von berechenbaren Kategorien löst und zum Platzhalter des Unbekannten wird. Von dort kommen jene Blicke, die das Andere (Objekt) in seiner Faktizität und seinem „Bildsein“ enthüllen. Es entstehen multimediale „Über-Orte“, in denen sich Kunst zum „Fleisch der Gegenwart“ macht. „Sein“ (Existenz) und „Wesen“ (Essenz) erlangen dort neue Rahmenbedingungen und entkommen obsoleten, pragmatischen Tendenzen verkrusteter, privatisierter Denkräume. Die Gefahr, sich aus dem Spiel zu nehmen und an Wirkung zu verlieren, entsteht, wenn „Ich/Kunst“ sich im „Wir“ absättigt und sich hinter Geistes- und Fantasiewelten verschanzt. „Ich/Kunst“ will Wirkung zeigen, möchte Grenzen überschreiten, verletzen. Die Allgemeingültigkeit des Individuums gilt als Niederlage und der Wunsch nach dem großen Ereignis wächst. „Erschieße oder werde erschossen“ - damit ist die Kunst nahe am Entertainment und beliefert das Verlangen nach Wirkung und obsessiver Vorgehensweise, auch wenn es um die Besetzung von Opferrollen geht. Der Kunstraum läuft in die Falle: Er wird durch das Entertainment zum Entertainment. Als Lieferant eines medial verzerrten Zeitgeschehens unterhält er den Gesellschaftsraum. Am Ende der Vorstellung wird er der Masse geopfert, verliert seine Kennung und bedient eine profillose Allgemeinheit („Wir“). Auch das gehört mit zum großen Spiel. Doch alles ist gut, solange das vermeintliche Ende kein Ende ist und das Spiel sich in all seinen Facetten neu dreht und wendet.

Die Tendenz des gegenwärtigen Kunstraums, sich trotz effektiver Beteiligungs-szenarien abzugrenzen, ist verständlich. Auf der Suche nach dem „bedeutenden Werk“ scheitern künstlerische Arbeitsfelder jedoch an der Potenz realer Ereignisse. Der gesellschaftliche Ereignisraum provoziert die Kunst aufgrund seiner Ab-solutheit, Dimension und Dynamik. Gewalt, Schrecken, Dramatik erzeugen Betrachtungsfelder, die dem illusionistischen Kunstraum an Wirkung überlegen sind. Die Souveränität echter Gewalt lässt die Grenzbereichsimulation im Kunstraum als läppisch und überflüssig erscheinen. Die gesellschaftspolitischen Folgen realer Dramatik sind Apokalyptik, Konvulsion, Euphorie und Fanatismus. Dies kann nicht Ziel- und Wirkungsort von Kunst sein. Die Immanenz der Kunst ist nicht das große Gelingen, sondern der Durchbruch zum „Selbst“ (Selbstvergessenheit) und dessen Unberechenbarkeit im Hinblick auf die Einmischung ins Geschehen. Das Motto künstlerischer Auseinandersetzung innerhalb einer an Dramatik kaum zu übertreffenden Medienwelt könnte heißen: Stören statt zerstören.

Die bewusst implizierte Unordnung wird zum unberechenbaren Faktor innerhalb realer Schreckensszenarien. Der „Bildschmerz“ verlagert sich, er wendet sich ab vom Schauplatz und trifft auf koordinationslose „Gegenräume“ (Salut la plage!). Jede Störung des Zeitgeschehens wirkt als Antizipation multivalenter Nichtkausalitäten. Darin steckt eine Form von Antwort auf die „besten Bilder“ gesellschaftlicher und politischer Szenarien. Ein „Terminator“, der zum Politiker wird und sich mit Wortbildern und Sprüchen wie „den Schlamassel in Ordnung bringen“ in der Politik bewegt, verabschiedet sich in die Wirkungslosigkeit politischer Drehbuchlandschaften - ebenso eine Kunst, die sich an realen Sze-narien misst, sich immer nur selbst inszeniert und die bis ins kleinste Detail berechenbar wird. Um Wirkung zu erzielen, darf sich der Kunstraum auf keine Reaktions- und Anwesenheitsmuster einlassen. Fragmentarische Positionen und eine temporäre, ephemere, punktuelle Anwesenheit innerhalb eines bewusst gewählten Agitationsfeldes der Einmischung eröffnen das Spiel, und das Spiel ist das Spiel selbst:
„Ich gelange an einen Ort, der nach Farben riecht, denke, bleibe und werfe meine Blicke gleich einem Speer hoch in die Luft. Dann schließe ich meine Augen. Vor mir ein Schatten, so Hals über Kopf. Ich überlege - begreife, dass »es« mich begleitet, Meter um Meter, mein Spiel, dort oben in der Luft (Text zu Objekt: Hello!, 2005).“




Hit-and-run

Das Auf- und Abtauchen im gesellschaftlichen Ereignisfeld, die autonome Positionierung und Verortung im undefinierten Raum, die Umkehrbarkeit eines Innen und Außen, die individuelle Intervention im Wahrnehmungsfeld, die Neugestaltung der „Beats“ im Wahrnehmungsrhythmus, die Dekonstruktion einer „Remix-Bebilderung“ im Mikro- oder Makrokosmos - all dies sind mögliche Ausgangspositionen für die Einmischung eines transitorischen Kunstraums in die gesellschaftliche Ereigniswelt. Kunst wird zum turnaround, zum Verwirrspiel, zum Hit-and-run-Phänomen und prononciert die Ambiguität der Begegnungsräume. Das phänomenologische Signum der Kunst ist das Plötzliche, das Fremde, das Unscheinbare, das Unerwartete. Und damit stiftet sie die notwendige Unruhe innerhalb einer kinematographischen Dramaturgie neuzeitlicher Bildmaschinen. Schließlich will sie den Bilddialog über die Rezeption hinaus füttern und ver-wirren.

Das verführerische, modisch domestizierte Verbrüderungsereignis zwischen Bild und Betrachter ist jedoch nicht der Bilddialog, sondern der Abend vor dem Bildschirm: „Wo warst du, als die Lichter ausgingen?“ Erleben und Emotion werden in handlungsfreie Zonen gestellt, verpackt in Konsumblöcke quotenfixierter TV-Welten. Zum „Dabei-Sein“ degradiert, erlebt der Zuschauer die Verwandlung vom Beobachter zum passiven Betrachter. Das Subjekt (Ich) wird vom Objekt (Fernseher) beherrscht, durch das Prädikat (sehen) definiert und als telematischer Faktor geduldet. Es hat keinerlei Einfluss auf das Geschehen und reduziert sich auf ein affektiertes Geplänkel einer medial inszenierten Lebensbesessenheit. Das „Subjekt“ wird im „Prädikat“ prognostizierbar (Ich/Subjekt - sehe/Prädikat), weil Sehen dem Erwerb einer telematisch propagierten Fähigkeit entspricht. Dem Zuschauer genügt es, die durch ein Medium übermittelte Aussage zumindest soweit zu entschlüsseln, dass er den Sinn erkennt. Er lässt sich Geschichten erzählen, ewig wiederkehrend und unendlich weit entfernt von Anwesenheit.
Im Kunstbetrieb sollte die Positionierung der Anwesenheit beachtet werden. Rezeption heißt Anwesenheit im Anderen, dem Kunstwerk oder dessen Traum vom Traum vom Selbst. Jener Vorgang begründet eine Art Wechselwirkung, die zur „Auseinander-Setzung“ zwischen Betrachter und Kunstwerk führt. Man begegnet sich mit eigenwilliger Kompetenz und Eigenständigkeit. Die Sprache des Werks ist das Werk selbst, und darüber hinaus gibt es ein Begreifen, welches sich jedoch nicht zwingend auf das Werk bezieht und welches zum Verständnis des „Nichtdargestellten“ beiträgt. Wenn das Dargestellte das Nichtdargestellte impliziert, fallen bildnerische Absichtsbekundungen ins Leere, und die Zweck- und Sinnfreiheit der Bilder werden favorisiert. „Wir töten die Bilder durch den Sinn“ (Jean Baudrillard). Offene, disponible, autonome Bildprozesse werden so in Gang gehalten. Der eigentliche Sehprozess setzt dann ein, wenn es dem Betrachter gelingt, sich mit dem Dargestellten auf spontanen, unberechenbaren Abwesenheits-/Anwesenheitsebenen zu bewegen. Betrachter und Bild tauchen auf, verabschieden sich, unerschrocken, sektiererisch, ohne Botschaft. Nichts ist genuin, falsch, faktitiv, apriorisch, aber alles ist alles und nichts. Die Frage, wer das spektakulärste Bild platziert, spielt plötzlich keine Rolle mehr, da Hit-and-run-Phänomene auf der Grundlage von Vexierbildern nur das Spielgeschehen bereichern, ansonsten aber wirkungslos bleiben. Schnelle, verführerische Bilder dringen zwar nicht weit genug vor, zeigen aber wegen ihrer Unberechenbarkeit durchaus metaphysische Relevanz. Die Betrachtung wird zur Bewegung, und Bewegung entsteht aus der Spannkraft der Positionierung des Subjekts im Anderen, im Fremden, im Abwesenden und Sonderbaren. „When the going gets weird, the weird turn pro“ (Hunter S. Thompson).




Blaue Wiesen

Malerei, Objekt- und Medienkunst als endemische Kunstraumkonstellation bieten die Chance, neben Konsum, Unterhaltung und gesellschaftlichen Moralwelten (und deren Ruf nach Vernunft), neue Gestaltungs- und Erscheinungsfelder zu lancieren. Gesellschaftskritik allein genügt nicht. Tabubruch und Dekonstruktion sind wichtige Ausdrucksformen, die in ihrer Diversifikation das spielerische Geschehen bedingen. Jenes lebt von Dynamik, Reaktion und Assoziation (Bild = Antizipation der Assoziation). Für „Entschlüsselung“ bleibt keine Zeit, der Betrachter hat keinen Anspruch darauf. Die Bildautonomie liegt so gut im Rennen. Form und Inhalt entledigen sich ihrer Instrumentalisierung, alles bleibt für sich:
„Langsam nimmt er den Kessel von der Herdplatte und stolpert zum Küchenschrank. Das Messer, eine vage Erinnerung an den gestrigen Tag. »Eine Lücke im Gedächtnis macht Angst, manifestiert aber den Zugewinn an Authentizität«, denkt er und schlürft seinen Tee. Ein Blick aus dem Fenster lenkt ihn ab, er entscheidet sich für einen Spaziergang. Die Aufforderung schneller zu gehen, dem Zeitablauf des Tages zu entkommen, um sich nicht in ihm zu begraben, macht ihn schläfrig. Er dreht sich um - niemand, keine Menschenseele, das Übliche. »I apologize for many inconvenience this may cause«, flüstert ihm die Mittagssonne ins Ohr. Er nickt zufrieden und setzt seinen Weg fort.
An einer Lichtung begegnet ihm ein Spaziergänger, der raschen Schrittes und ohne zu grüßen an ihm vorübereilt. »Vielleicht hat er mich übersehen«, denkt er, »ist mir ganz recht, denn eigentlich bin ich nur für mich selbst da.« Die Hitze macht ihm zu schaffen. »Wenn ich eine Spur schneller ginge, wäre der Tag etwas länger«, theoretisiert er gelangweilt und setzt seine Schritte kräftiger. Seine Gedanken werden allmählich klarer. An der nächsten Wegkreuzung bleibt er stehen. Er hat Angst vor diesem Moment, denn er weiß, dass er an derselben Stelle angelangt ist wie bereits gestern. Auch heute wird er sein Messer dort nicht begraben. Und so macht er sich aus dem Staub und mit ihm der morgige Tag (Text zu: Hurry Up, Harry!, 1997 · A counterbalance against time - or the knife. - Video, 240 min).“

Die Ungezwungenheit im Umgang mit einer prozessartigen Bebilderung wird erst dann problematisch, wenn aus ihr eine überreizte „Ich-Bewegung“ resultiert: „Ich“ wetteifert mit den Bildprozessen und wird selbst Teil der Bildmaschinerie. Existenziell (Sein) und essenziell (Wesen) betrachtet, bleibt von ihm nicht mehr als eine blutleere Rahmenerzählung. Euphorie, Spektakel, Agitation werden zur Apokalypse (Rauschzustände), denn sie wirken nicht mehr, da „Ich“ nicht mehr zur Verfügung steht. Bilder ohne Bildschmerz (das eigene Vorhandensein spüren) irren als Kulissen umher, verflucht in alle Ewigkeit:
„Zwei bis drei Schritte genügen. Er stellt sich an die Brüstung, nimmt die Weite der blauen Wiesen in sich auf und verliert seine Persönlichkeit - Schwindelgefühle. Wenn er springt (und er springt nicht immer, nur ungefähr jedes dritte Mal), dann nur in seiner Vorstellung, rein gedanklich. Nach einem Sprung wischt er sich die Kulissen seiner Freunde und Bekannten aus den Augen. Ein realer Sprung erfolgt nicht. Er steht nicht mehr zur Verfügung (Text zu Objekt: Garland · His stock has gone down, 1998).“

Doch plötzlich wird der „Blick hindurch“ möglich - Imagination, Traum, Vorahnung und Uneigentliches mischen sich ein. Das Spiel beginnt aufs Neue, Kulissen lösen sich auf. Transparenz, Eigenständigkeit und fremdartige, paradoxe Wahrnehmungsweisen beleben den Ort. Ein Bild wird über/durch das Andere zum Anderen, verabschiedet sich und alles ist wieder offen: blaue Wiesen.




„Canvas“ als lounge lizard

Das individuelle Dispositiv künstlerischer Arbeit findet sich im Konzept und Werk gleichermaßen. Malerei im 21. Jahrhundert heißt nicht einfach, Leinwände zu produzieren. Der neuzeitliche Kunstraum verlangt nach extemporierten, transitorischen, punktuellen Environments im gesellschaftlichen Kontext: „I make a painting, a tectonic distortion between subject, predicate and object. Predicate is subject. Me and the painting are recursive and we avoid the object” (Celebrity Project · 9 Paintings 4 Homeless, 2004). Der dialogische Charakter zwischen Kunstraum und Gesellschaft belebt die kontrastierende, motivische Position der Leinwand als dynamisches Ausdrucksmedium. In ihr werden keine Inhalte festgeschrieben, der Inhalt der Leinwand ist die Leinwand selbst. Als Teil einer kommunikativen Umwelt erfährt sie ihre Authentizität, Vitalität und Wirkung nicht im etablierten Kunstraum, sondern durch die Anwesenheit im Geschehen.

Die Dominanz (Hegemonie) der Bilder gegenüber der Sprache, in der Bildwissenschaft als iconic turn (Gottfried Boehm) oder pictorial turn (Tom Mitchell) belegt, lässt sich auf die Feststellung reduzieren: Bilder gehen der Sprache voraus. Jener zeitliche Vorsprung innerhalb eines kommunikativen Systems entfacht eine Bildaktivität (bildaktive Bewegung), die die Sprache ausbremst und die Charakteristik der Bilder vor Ort neu regelt: Bilder, direkt am Geschehen, frei von Nachbildung, Instrumentalisierung, Illustration. Die zeitgenössische Malerei hat dies bereits früh erkannt. Schon immer hat sie sich als extrakorporale Schnittstelle verstanden, an der sich künstlerische Arbeitsfelder mit aktuellem Zeitgeschehen verlinken - fern jeglicher Reminiszenz an Historie.

In meiner zyklischen Malerei steht „Canvas“ für das autonome, temporäre Bild, für die Leinwand, die sich innerhalb des Geschehens definiert - verträumt, in sich verliebt und mitten unter uns. Ihre bildnerische Formulierungen beleben die aktuelle Ereigniswelt, sind Teil von ihr. Die abstrakte (ungegenständliche bzw. gegenstandslose) Ausgangslage und die Formelhaftigkeit der Chiffren ermöglichen der Malerei, sich der „reinen Malerei“ anzunähern. Die Leinwand selbst wird konkret und „wirklich“ (Theo van Doesburg), d.h. die Wirklichkeit ist die Leinwand selbst. Sie wird nicht als Nacherzählung, Spiegel, Dokumentation oder Illustration der Alltagswelt missbraucht. Ihre Unabhängigkeit und Autonomie sind für die Behauptung als freies, individuelles Medium zwingend.

„Canvas“ wird zur umtriebigen Bildwelt, die sich nicht im musealen Raum vergräbt. Als Teil einer urbanen, medialen, kommunikativen Landschaft sorgt sie für Verwirrung, da sie ihre Unberechenbarkeit (Verselbständigung von Form und Farbe) betont platziert. Gegenstandslose Formulierungen - als Kernpunkt der Bildgestaltung - unterstreichen die Eigenständigkeit der Leinwand und bedeuten keineswegs eine Abkehr von der dinghaften Wirklichkeit und mimetischen Abbildung der Außenwelt. Vielmehr ermöglichen sie die Konzentration auf den inneren Dialog und dessen Anwesenheit in subjektimmanenten, obsessiven Themenfeldern. Dass er nicht glaube, „dass es nötig ist, Bäume zu malen, denn die Leute können auf dem Weg zur Ausstellung bessere sehen“, hatte bereits Kupka 1905 klargestellt. Die Aktualität dieser Aussage liegt (in Anlehnung an die abstrakte Kunst um 1920) in der Negierung der Abbildung einer Dingwelt, denn was bereits vorhanden ist, verlangt nicht unbedingt nach Multiplikatoren, motivischen Parallelen und Iterationen. Selbst wenn die Figuration im Kunstbetrieb mal wieder Hochkonjunktur hat, sind es ihre expressiven, allochthonen Filter (Verzerrung der Wirklichkeit), die sie am Leben erhalten. In Zeiten beschleunigter Vulgarisierung und Auflösung bedeutet „Canvas“ ein Ort individueller, spontaner, partikularer Anwesenheit im gesellschaftlichen Ereignisfeld. Linie, Fläche, Form und Farbe verhalten sich kryptisch, diachron, obsessiv, diskontinuierlich. Sie diskreditieren, dislozieren das „Kunstwerk“ und entwerten die Leinwand. Die Ikonographie wird zum umtriebigen Spiel, das keine Einblicke zulässt. Der Prozess der Dechiffrierung läuft beständig ins Leere. Bildimmanente Pathosformeln zerfallen, Bedeutung wird überflüssig, Narrationen enden, bevor sie beginnen. Gegenstandslose Transformationen verwerfen das malerische Konzept und suchen das Ende der Repräsentation. „Kunstwerkbefreite“ Bilder werfen sich kontrastierend dialogisch ins Geschehen - als lounge lizard einer Verortung vor der Zeit.

Und so definiert sich das aktuelle Geschehen als Ort, der bereits stattgefunden hat und als Zeit, die auf der Basis ihrer Koordinaten nicht existent ist. „Canvas“ steht damit für eine andere, noch nicht eingelöste Wirklichkeit.



Essay in: Bernd Erich Gall · Playground. - Katalog, 4-farb., 46 S., 2005.
© dada-schriftenreihe · Fotos: VG Bild-Kunst, Bonn · ISBN 3-00-016335-2