der infant 99/1 · Zeitschrift moderner, aktueller Gegenwartskunst · Textbeiträge
Assiduity In The Bee-House · Should Mr and Mrs Gere be left alone?



Von Bernd Erich Gall

In der Gefangenschaft der Erinnerungen und Bilder, der Vernetzungen von Wissenschaft, Erfahrung und Lernen, der Reflexion und Sedimentation von Erlebnis und Ort, Event und Zeit, Subjekt und Plural, Dokumentation und Historie, Analyse und Evaluation, Atavismus und Pop verschließt sich uns Gegenwärtiges. Wir empfinden rekursiv auf der Basis unserer Lebensinhalte, deren rezidive Charaktere ein Bollwerk gegen Affekt, Spontaneität, Simul-taneität und unbewußtes Handeln bilden. Wenn Gegenwart zur Erinnerung, zum Memento wird, wird alles Tun zum Plagiat, wird Kunstschaffen zur Rezeption und Rezeption zur Nachbetrach-tung (Betrachtung der Betrachtung).

Sich von jener Gefangenschaft zu befreien heißt, Agitation und Ephemeres zu plazieren, um rudimentäre, singuläre, konvulsive Struk-turen künstlerischer Wirkungsfelder zu favorisieren, um Zeit als Ort/Unort und Gegenwart als Aktion zu erfahren. Fragen zu beantworten ist nicht die Aufgabe der Kunst - gerade dadurch grenzt sie sich von Kultur und Historie ab. Die Kunst kann sich keine geschichtsträchtigen, rezidiven (anachronistischen) Tendenzen leisten, denn sie verliert dabei an Öffnung und macht sich zum Werkzeug des ewig Abgelegten, der ehedem gelebten Bilder. Aktuelle Empfind-lichkeit muß in der Kunst mit inszenierten Konstrukten einer Dokumentationsgesellschaft (Telekratie/Politik/Wissenschaft) konkurrieren, um Gegenwärtiges neu zu beleben. Leinwand, screen, Fototableau, Objekt usw. erreichen dies durch konvulsivische Ausdrucksmittel (BRETON), die aus dem Jetzt und Hier resultieren und Gegenwart, Identität, credibility belegen. Daraus entsteht Neues (Status Nascendi), Ursprüngliches - ein Ausgangspunkt zeitgenössischer Kunst.

Um künstlerische Arbeit und Intension simultan zu plazieren, ist die Begrifflichkeit der Ver-gangenheit, Gegenwart und Zukunft von Bedeu-tung, d.h. das Phänomen Zeit verlangt nach neuen, individuellen Interpretationen, Modellen und Denkweisen. Zeit als rein mathematisch bestimmbarer Wert, als physikalisch erfaßbare Dimension, als teleologisches, mensurables Raum-Zeit-Kontinuum, erscheint obsolet.

Trotz aller offenen Fragen werden zeitliche Inhalte unserer postmodernen Gesellschaft zum bloßen Faktor reduziert, sie werden permutabel hinsichtlich ihres gesellschaftspolitischen Stel-lenwertes. Die Zeit scheint längst entzaubert. Sie resultiert latent aus surfaces. Dabei manifestiert/visualisiert sie sich in den Veränderungen jener Oberflächen/Epidermis und unterstellt sich exogenen Kräften und deren skalierten Begriff-lichkeiten wie Datum, Uhrzeit, Alter und Dauer. Jene outen sich als Antworten, die Fragen vertrösten. Die endogene Zeitbetrachtung verliert dabei an Bedeutung und unterliegt rezidiven Konstellationen althergebrachter Denkmuster.

Der herkömmliche Zeitbegriff definiert sich als Ansammlung von Zeitintervallen. Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Jahre usw. werden aneinandergereiht. Das Zählen, Addieren und Subtrahieren (Arithmetik) von Größen bestimmen Zeitdauer, Gegenwart, Zukunft und Ver-gangenheit. Dieser reinen Zählbarkeitstheorie widersprechen bereits antike Vorstellungen (HERAKLIT, KRATYLOS). Sie betonen die Prozeßhaftigkeit und Metamorphose scheinbar gleicher Einheiten. Demnach entspricht keine Sekunde (Minute, Stunde usw.) der anderen, denn subjektive Erlebnismomente verleihen jeder Einheit eine gewisse Einmaligkeit. Da innerhalb der radikalen Strukturierung heutiger Zeitbetrachtung nur das gezählt und aneinandergereiht werden kann, was vollkommen identisch ist, zeigt sich hierin eine Schwachstelle standardisierter Meßfolgen. Die klassische Zeit-messung hat nur als intersubjektiver Zeitrahmen Sinn, versagt aber bei der Messung dessen, was unzählbar ist: dem Erlebnisinhalt.

Der soziale Aspekt der Zeit liegt nicht allein in der Synchronisation von Abläufen, vielmehr der Schaffung von Raum bzw. Erlebnisraum. Die Geschwindigkeit kultureller Entwicklungen hängt damit zusammen. Jene finden ihren Antrieb in der Kompensation räumlicher/zeitlicher Enge („synchronisierte Grundstruktur kollektiv verarmter Erlebnisfähigkeit“ - SCHUMMER).

Der Umgang mit wissenschaftlichen Größen im künstlerischen Kontext führt über Empfindungs-felder (Ahnungen) letztlich zu konzeptuellen Modellbegriffen. Der Verlust an gewohnten Denkstrukturen setzt Abstraktionen frei, die einen neuen Determinismus beleben. So kann ein plötzlich neu diskutierter Begriff das Be-wußtsein in der Weise bedrängen, daß er selbst im Alltäglichen (Schulwissen) eine neue Deu-tung erfährt und seine „naturale Nähe“ beibehält (school isn’t all lessons).

In der künstlerischen Arbeit orientiert sich Begriffliches (Abstraktum Zeit) eng am Subjekt. Kunst lebt und arbeitet innerhalb einer „individuellen Räumlichkeit“, in der Fragen nach Phäno-menen nicht durch formale Denkweisen erledigt werden. Mathematische Logik, Technik und Wis-senschaft liefern ihr die notwendige „raumthematische Unschärfe“ und verleihen ihr einen Hauch von Initiationsvermögen. Künstlerische Denk-/Modellformen werden plötzlich verständlicher als Computerabstraktionen und wissenschaftliche Systeme, d.h. sie decodieren den „unscharfen Raum“ und favorisieren das systemische Selbst (im Sinne eines gesteigerten Bewußtseins).
Der in der Psychologie bekannte Terminus der Kontiguität (das Zusammenfließen verschiedener Erlebnisinhalte) liefert Denkanstöße für ein interessantes, subjektorientiertes Zeitmodell. Wenn es ein Nebeneinander zeitlicher Inhalte gibt, wenn dieses Nebeneinander aus Bildern besteht und wenn jene Bilder Räume/Orte besetzen, dann wird Zeit zu Raum (Zeit-Raum-Kongruenz). Es entstehen Räume im Raum (Adressierung), die als Orte jederzeit auffindbar sind. Die Zeit als Kontinuum, als prozeßhafte Kraft erübrigt sich. Sie outet sich als dichtes Raster besetzter (Vergangenheit) und unbesetzter (Zukunft) Bildräume. Das vielbeschworene Nacheinander (Kontinuum) wird zum Neben-einander (Zeit = Raum = Ort = Bild). Daraus resultiert ein bildräumlich dreidimensionales Raster.
Die Platznahme der Bilder im Raum erzeugt Gegenwart. Zwischen den Bildern treffen wir auf voids, die wie die unbesetzten Bildräume der Zukunft „zeit-“ bzw. „ortlose Räume“ (Unorte) darstellen. In besagten Orten existiert keine Zeit, da sie keine Bildadressen besitzen. Jene Leer-stellen beleben den rudimentären Charakter von Zeit und begründen deren unnahbare, sublime Erscheinung. Sie will sich nicht als Einheit, als berechenbare Größe präsentieren, vielmehr favorisiert sie aleatorische Muster. Die daraus resultierende Fragmentierung erzeugt Augen-blicke, deren Dauer von der Größe und dem Aufbau eines Zeitbildes/-raumes und der Anzahl der Bilder abhängt. Kinematik und Telemetrie definieren demnach Zeit ebenso wie herkömmliche numerische Größen (h, sec...).
Statische Elemente der Ortsgebundenheit und des Bildcharakters stehen in reziproker Bezie-hung zum Ortswechsel, zur Kinematik im Raum. Die Gedankenwelt jedoch wird zum Motor. Sinnlichkeit, Sublimation sorgen für Bewegung und ersetzen die Additions- und Rechenmodelle physikalischer Betrachtungen. Ortswechsel be-legen die gezielte Intervention in Bestehendes.

Die Frage nach dem how to come into presence gestaltet sich im Bewußtsein (Reflexion, Asso-ziation, Erinnerung) und Bewußtsein resultiert aus Denkprozessen, deren Zeitfelder Vergan-genheit (sedimentierte Bilder) favorisieren. Wir belegen Gegenwart mit (zeiträumlichen) Gedan-ken, rekursiven Betrachtungen, Erinnerungen und manövrieren uns ins Echo gegenwärtigen Tuns. Denken (collection, assembly) ist Ver-gangenheit, ist Verlangsamung, ist Inszenie-rung. Daraus resultieren mehrfach überlagerte Konstrukte, die Fremdes, Neues, Aktuelles verhindern. In abgelegten Bildern zu denken heißt, Gegenwart verlieren, denn Bild um Bild (Sekun-de um Sekunde) ereignet sich Geschichte und Historie. Die Gegenwart selbst wird zum Anachronismus, zur Konserve.
Was bestimmt Gegenwärtiges? Marginales, Akzidentielles, Fragmentarisches, Unbewußtes, Erratisches, Selbstfremdes, Unsicheres, Unfer-tiges (to be unsteady). Aus ihnen erwächst Unsicherheit, Unruhe, Bewegung - letztlich ein Ausgangspunkt für Inspiration und Agitation. Ziele (Zukunft) plazieren sich dabei mehr und mehr im gegenwärtigen Kontext. Es entstehen fragmentarische Gegenwartseinheiten - „mikroskopische Momente“, die weder dokumentieren noch diktieren, sie outen sich vielmehr als erratische Lehrstellen innerhalb globalisierter Erlebnisfelder, die der Unvollkommenheit (Di-vertimento) frönen und Erinnerungen weit von sich weisen. Der gegenwärtige Mensch wird zum Dissident (dissiden/t/ce of time), zur displaced person (fallacy) im soziologischen, gesellschaftspolitischen Raum-Zeit-Gefüge.

He banged the door in my face, und damit war die Erinnerung an die Erinnerung aus der Welt. Bewegung und Stillstand bestimmen die Anteile von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Bewegung bringt Gegenwärtiges und Zukünf-tiges hervor, Stillstand erzeugt Vergangenheit. Augenblicke, in denen Bewegung abrupt zum Stillstand kommt, vermitteln eine Ahnung von Zeit. In ihnen überlagert sich der „mathematische Konstruktionsentwurf Zeit“ mit unbewuß-ten Orientierungsphänomen. Daraus entstehen individuelle, idiomorphe Raum-Zeit-Bilder.

Ein simulatives, soziologisches Szenario aktueller Zeitbetrachtung liefert die gegenwärtige Konsum- und Informationsgesellschaft: Tele-kratie (TV-Geräte als Dauerzustände) und Kult des Banalen (Spaßgesellschaft). Zwischen ihnen besteht eine Wechselbeziehung, die scheinbar lapidare Litaneien zum produktiven Event transformiert. Auch sie outen sich als Leerstellen, die als Freiräume nicht zu „Denk-plätzen“ sondern zu „Handlungsorten“, zu simultanen, spontanen Wirkungsfeldern werden. „Eine Wahrnehmung seiner selbst kommt aus einem gewissen Grad von Aktivität, man kann sie nicht einfach durch Nachdenken über sich selbst bekommen“ (NAUMAN). Spaß, Spiel und Emotionen beleben demnach den Raum, überfütterte Gedankenkonstrukte (falls sie nicht Konzept sind) paralysieren ihn. He banged the door in my face steht somit als headline für das Jetzt und Hier, für Agitation, Provokation, Bana-lität, Selbstdarstellung (Ich) und Immanenz künstlerischer Arbeit. Der Raum (Zeit) wird zum Ich (Zeit = Raum = Ort = Bild = Ich).

Hurry Up, Harry! (A counterbalance against time): Eine vage Erinnerung an den gestrigen Abend. Eine Lücke im Gedächtnis macht Angst, manifestiert aber einen Zugewinn an Unvorher-sehbarem. Er entscheidet sich für einen Spaziergang. Die Aufforderung schneller zu gehen, sich dem Zeitablauf des Tages überzuordnen, ihm vorauszusein, macht ihm zu schaffen. Er dreht sich um, niemand, keine Men-schenseele, das Übliche. I apologize for many inconvenience this may cause, flüstert ihm die Mittagssonne ins Ohr. Er nickt zufrieden und setzt seinen Weg fort.
An einer Lichtung begegnet ihm ein Spazier-gänger, der raschen Schrittes und ohne zu grüßen an ihm vorübereilt. Vielleicht hat er mich übersehen. Ist mir ganz recht so, denn eigentlich bin ich nur für mich selbst da. Gerade darin liegt das Gegengewicht (against time), philosophiert er, nur für mich selbst dazusein. Der Rest seiner Gedanken verliert sich zwischen seinen weiten Schritten - geradewegs und unauffällig.
Wenn er eine Spur schneller ginge, wäre der Tag etwas länger, theoretisiert er gelangweilt, und setzt seine Schritte kräftiger. Die Gedanken werden allmählich klarer. An der nächsten Wegkreuzung bleibt er stehen, und er hat Angst vor diesem Moment, denn gerade jetzt und gerade dort weiß er, daß er an derselben Stelle (wie bereits gestern) angelangt ist. Aber auch heute wird er seine Schritte dort nicht begraben. Er macht sich aus dem Staub und mit ihm die Erinnerung an den gestrigen/heutigen/morgigen Tag.

Die Funktionssysteme der Medienwelt und des Konsums beliefern einen aktuellen Informations-kreislauf, in dem zeitliche Komponenten wie neu oder nicht so neu zählen. Darin ähneln sie den agitativen, spontanen Ausdrucksformen zeitgenössischer Kunst. Der Unterschied besteht im take (fast) not make (Konsum) bzw. take and create (Kunst).
Die Vielfalt soziologischer Funktionssysteme erzeugt ein dichtes Netz von Handlungsparaly-sen, die durch Konsum und Medien überspielt werden. „Die Systeme produzieren die Elemen-te, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen“ (LUHMANN). Wün-sche und Kommunikation werden per remote control erfüllt - sie überspielen die Leerstellen zwischen bits und bytes. Das Dort wird zum Hier. Der telekratische Raum öffnet sich einer somnambulischen Begehung, und Wirklichkeit zeigt sich virtuell hautnah abwesend im Jetzt und Hier.

Get lost, Angie! (Vom Attentat im Affenstaat): Ein Bild schleicht durch den Wintergarten, / leicht ohne Rahmen ohne Rad / auf engem Pfad / und auch die Gräser singen leise / vom Attentat im Affenstaat. / Das Bild, es trägt die Axt im Bauche / geschwängert durch belegten Blick. / Niemals zurück in alte, weiche Hundehütten, / wo Kette schier den Hals erdrückt. / Trotz der Gefahr als Odaliske / dem Winter untertan zu sein, / als Gallenstein / ein unbedeutend schwacher Drücker / im Räderwerk des Staats zu sein, / schleicht jenes Bild im Wintergarten / und stößt an dickes Fensterglas - / dort spiegelt was, / und beide Bilder steh’n erschrocken / sich gegenüber - Glas an Glas.

Virtuelle („gespiegelte“) Nähe bedrängt die reale Begebenheit, das Objekt, die Materie. Das Bild auf dem screen ersetzt das Bild auf der Lein-wand, doch beide sind nichts anderes als das Abbild der Abbildung von Zeit und Subjekt. Bilder jagen hinter Bildern her und Abwesenheit bevölkert die chat-rooms. Das Ich (die Zeit) verliert an Platznahme. Es finden sich als disjunktiver, erratische Fremdkörper in der endlosen Diskontinuität des Raumes (Ortes) - einsam und visionär (... be left alone).






Who The Fuck Is Alice

Von Wolf Pehlke

In den Medien der zweiten Moderne, die ihre neuen und virtuellen Stammeszugehörigkeiten verwalten und beherrschen, ist die Wiederhol-barkeit des Wiederholbaren ein Maßstab. Wir sind für den Rest unseres Lebens dazu verdammt, daß Folgen und Fragmente permanenter Wiederholungen einer medial gezappten und gesampleten Mega-, Pop- und Multi-Media-In-dustrie völlig unberechenbar auf der Festplatte des Gehirns gespeichert bleiben. Es ist die Unberechenbarkeit des Codes einer kollektiven Seuche und einer technologisierten Gehirn-wäsche. Twenty-four years I’ve been living next door to Alice. Die rituelle Beschwörung aus Teenagertagen bleibt wie Klebstoff in den Jahren hängen, in die sie kommt, und läßt als Mantra alle Fragen offen, die sich stellen. Wer eigentlich und überhaupt ist Alice? Das personalisierte Bild ist ohne jede Person.

Alice weiß nicht, was in den anderen Programmen vor sich geht. Primärpersönlich-keiten sind nicht vorhanden. Dort wo Daten kollidieren, werden die Bilder sofort gespalten und tauchen ins Muster der Tapete weg. Die multiplen Bilder verlieren ihre Personen, die sich in der Zeit verlieren. Wie in einem Zeitloch verschwinden Bilder und Personen in einem Data-Crash.

Die realen Bilder setzen sich zusammen aus Montagen und Surrogaten der Realität. Sämt-liche Funktionen zusammen ergänzen sich zur Simulation des geschlossenen Bildes. Alice im Wunderland. Eine kurze Geschichte der Zeit-reise durch die multiplen Persönlichkeitsspal-tungen im Bild. Alice, der totale Cyber-Space. Die Personifikation ihres Wunderlandes collagierter Bilder in einer einzigen Projektion.

Alice entstand als sich ihr Bild verlor. Sie erschuf sich aus der Wiederholung des von ihr abgespaltenen Bildes. Ihre erste Abspaltung war das erste Bild, das von ihr entstand und sich dann Multiple um Multiple wiederholte. Ihre zweite Abspaltung war die Vergewisserung ihrer Existenz in der Wiederholung. Die Hülle, über die sich die Sampling-Industries hermachten, um sie mit der Frage nach ihrer Identität auszufüllen. Das Ausweichmanöver führte in die Unerträglichkeit, ein sich in der Spaltung multiplizierendes Weltbild zu bewältigen. Es verdoppelte das personalisierte Weltbild und damit auch die Multiplikation der gespaltenen Teile. Alice, who is who, Alice.

Jedes Bild ist jeder Person zugänglich. Jede Person ist ein Medium für Bilder. Ein Bild zu sein ist eine Botschaft. Über interdisziplinäre Stam-meszugehörigkeiten wird Existenz als eine Erscheinung begriffen, die über eigene, selbstgeschaffene Bilder verfügt, die einem Zustand in den Grenzen eines Bildes gegenüberstehen. Alle Bilder sind alle Personen.

Treten neue Personen in den virtuellen Raum ein, verfügen sie bereits über alle Daten des Menüs. Obwohl eben erst personalisiert, besitzt das Bild einen Anschluß zum laufenden Programm und eine Orientierung in den Codes. Alice war schon da, bevor Alice da war.

Die Zukunft wird fragmentarisch sein. Sie wird sein wie das Leben. Eine herausgerissene Seite von irgend etwas. Zusammenhangslos. Eine Erleuchtung. Ein leeres Blatt. Nicht länger dauernd als einen Moment.

Die Zusammenhänge werden mathematisch sein. Die Formel ist das Fragment. Das Frag-ment ist das Gebet. Nur Additionen werden überleben. Im System der Koordinaten ist alles ewig. Nichts wird länger dauern als einen Moment. Aus veredeltem Platin gestählt. Es wird das Zeitalter hochwertiger Materialien sein. Das Zeichen des goldenen Kalbs. Unter allen Frag-menten wird der Mensch das minderwertigste sein. Ein leeres Blatt.






Black Maria ... Zeit des Fliegens

Von Jürgen Ploog

Die kinematische Zeit hat den Menschen in einen Reisenden ohne Heimat, ohne Zeit und Raum verwandelt. Er bewegt sich in einem Raum, in dem alles eine Frage der Geschwin-digkeit ist, in einer Dimension, „in der Raum und Zeit verschwinden“ (GANCE). In diesem Raum wird sein Verschwinden inszeniert, so scheint es. Die Enge seines herkömmlichen Wahrneh-mungsmusters legt ihn auf Immobilität fest.

Der Betrachter sieht nicht in Echtzeit, er folgt der fiktiven Linie seiner persönlichen Zeit. Fiktives und Reales verwischen und vermischen sich hier. Kontrolle passiert über den Eingriff in die Sehweise, die Sicht, dort, wo sich die Mittel der Zerstörung und Kommunikation überlagern, wo die Verfälschung von Entfernung und Erschei-nung beginnt. Die Bilder von heute können morgen wertlos sein (in ihrer Wirkung). Mehr noch: indem sie nur sekundenlang über den Bild-schirm laufen, bleiben sie unfaßbar. Nähere Betrachtung, ein Vor-Ort-Gefühl ist ausgeschlossen.
Echtzeit ist inszeniert, ein Trick, der nur dadurch gelingt, daß der konditionierte Wahr-nehmungsapparat die Lücke zwischen Auf-nahme und Wiedergabe nicht erfaßt. Ein technologischer Taschenspielertrick, der funktioniert, weil das Bewußtsein des Zuschauers für die Technik des Prozesses unterentwickelt oder nicht vorhanden ist. Der „Druck von Raum und Zeit“ ist inzwischen unerträglich geworden, auch deshalb, weil es für diese Dimensionen kaum Begriffe gibt. Das Raum-Zeit-Kontinuum.
Was auftaucht, ist die „Zeitdimension des projizierten Raumes“, eine Dimension heterogener Wahrnehmungsfelder, die „dromoskopische Sicht“, von der VIRILIO spricht, deren Merkmale Beweglichkeit und die Kraft der Geschwindigkeit sind.
Auf dem Boden räumlicher Erfahrung (sage ich mir) werde ich zurück in die gewohnte Zeit finden.
Straßen sind wie Notizbücher, in denen sich finden läßt, was passiert und liegenbleibt, was aus der Zeit gefallen ist. [...] feststellen, daß Zeit die Richtung der Reise bestimmt, und alles, was der Körper sagt, ist, daß er einen Vorsprung will. Da ich nie ankomme, bin ich auf Fragmente angewiesen. Daß es einen Höhepunkt, einen Anfang und ein Ende gibt, halte ich für eine Fiktion des zeitlichen Triebs.

[...] was sonst noch passiert, hat nicht das Geringste mit mir zu tun. Ich bin nicht hier. Ein Zustand, in dem jede Berührung höchst er-schreckend ist. Es ist ein Raum, in dem es keine Bewegung, nur Echos von Bewegungen gibt. Im Gegensatz zu meinen Gegenübern habe ich ein körperliches Bild von mir. Ich habe kein Gefühl, nein, sie befühlen mich. Sie glauben, sie können mich auf ein Gefühl reduzieren.

Wenn die Zeit eine geometrische Formel ist, dann taugt sie weder zum Addieren noch zum Subtrahieren. Bestenfalls läßt sie sich algorithmieren, in ein System von Unveränderlichen überführen. Und wie steht es mit den Bildern? Im All verändern sie sich. Aus ihrem zeitlichen Kraftfeld gerissen, schrumpfen sie zu artefaktischen Gebilden, ähnlich dem Lichtstrahl eines Sterns, der den Betrachter erreicht, wenn seine Quelle bereits erloschen und unsichtbar geworden ist. „Aus der Zeit fallen. Die körperliche Form verlassen.“ Alle Zeit der Welt ist plötzlich auf einen einzigen Punkt geworfen, das Hier zu einem Ort des Nichtgeschehens geworden. Wo alle Farben einem undurchdringlichen Grau gewichen sind. Wo es kein Weiterkommen, sondern nur noch Wiederholung, geklonte Ge-schichten und schleichendes Licht gibt, und der Niedergang des zeitlichen Gesichts, die historische Entwertung, unausweichlich ist. Das Ver-gängliche lesen ... eintauchen in seine Schatten.

Es geht nicht darum, seine Verfolger abzuschütteln oder sich in eine andere Identität zu flüchten, es geht darum, sich den räumlichen Festlegungen zu entziehen, in einen endogenen Zeitkörper zu schlüpfen.

„Das Bild“ wird durch Ausschnitte ersetzt, es zerfällt in zeitliche Momentaufnahmen und wird zu einer mehrdimensionalen Ikone, wie im abgefilmten Starkörper. Wer gewöhnt ist, Kunst als selbständigen Nebenschauplatz zu betrachten, dem müssen wesentliche Begriffe dessen, was Wirklichkeit ist, entgehen. Scheinbar hat zwar die Wissenschaft die Funktion von Vermittlung übernommen, aber ihre Erklärungen bleiben dem lebenden Gegenstand abgewandt. Sie handelt mit totem Material.

Zeit ist das, was sinnlos ist. Zeit ist ein kom-munizierender Bereich. Zeit ist Raum ohne Gesichtspunkt. Zeit ist das vergängliche Hier, ein hypergravitionelles Zeichen.

der infant
Zeitschrift moderner, aktueller Gegenwartskunst
ISSN-Nr.: 1433-5492
Herausgeber:
dada-schriftenreihe · Herdeichen 11
75334 Straubenhardt · Tel./Fax: 0 70 82 - 41 53 09

Redaktion: A. M. Kunz, B. E. Gall
Erscheinungsweise: 2-3 Ausgaben/Jahr
Auflage: 2000

Verlagsort: Pforzheim
Gestaltung: dada-design; Umschlag: gall
Fotonachweis: dada-design, Pforzheim
© Fotos: Bernd Erich Gall u. VG Bild-Kunst, Bonn
Lithos und Druck: Alpha-Druckh., Pforzheim

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