. der infant 99/2 · Zeitschrift moderner, aktueller Gegenwartskunst · Textbeiträge

Okzidentierung · Die Sonnenuntergangsrichtung als Lebensform



Von Dietmar Kamper

Languedoc, das liegt dort, wo sie das Ja mit hartem Abschluß sprechen, nicht weich wie oui. Immer, solange ich denken kann, hat es mich dorthin gezogen, nach Westen, ins zweite Futur, wo am Tor des Himmels der unannehmbare Spruch geschrieben steht: „Du wirst nicht gewesen sein“. Das ist kein memento mori, sondern, härter, die Aufkündigung des Menschengeden-kens in mindestens einem Fall. Die ersten Reisen in den siebziger Jahren waren schon Proteste dagegen, die Reisen nach Mougins, nach Arles, nach Carcassonne. Eines Sonn-tagnachmittags bei beginnender Dämmerung gelang mir, zitternd und zagend, die Entdeckung des Pog, des Montségur. Nur aus der Ferne habe ich ihn gesehen, mit den Augen Wolframs von Eschenbach. Dann bin ich abgereist. 1980 fuhr ich zum ersten Mal nach Santiago de Compostela über Vézelay. Dann ereignete sich Fauzan mit dem Van-Gogh-Zimmer, die bleibende Unruhe in der Frage, ob die Greuel des Kreuzzuges gegen die Katharer, wie sie historisch von Kirche und Staat inszeniert wurden, stärker sind als meine schreibende Annäherung an ein vergessenes Mittelalter, in den siebziger Jahren noch ein einsames Unternehmen. In den neunziger Jahren dämmerte mir nach und nach, daß das wahre Westland nicht Kalifornien ist, sondern Brasilien, El Dorado. Vor dem das Europa der Landkarte, d.h. Deutschland, Frank-reich, Spanien, Portugal in ihren flächigen Umrissen auf den Knien liegt, auf den Knien Italiens, oh Genua, mit der Stirn Afrika berührend. Brasilien zeigte sich später als das wirkliche Land der Freiheit, in dem es möglich ist, auf eine neuartige Weise zu re/signieren, d.h. den unannehmbaren Spruch des Himmels auf Erden geringzuschätzen und im Einver-ständnis mit der eigenen Sterblichkeit zurückzuweisen, beiseitezuschieben, außerachtzulas-sen.

In Richtung der Abenddämmerung läßt sich begreifen, was es heißt, einen Körper auf Zeit zu haben und mit einer hautlosen Wahrnehmung begabt zu sein. Okzidentierung ist Annahme der Zeit und ein langsames Lernen, daß Spüren vor Sehen, Schreiben, Rechnen geht. Das ist bei den endlosen Gesprächen herausgekommen. Körper auf Zeit sind einzig über eine sinnlose, hieroglyphenähnliche Narbenschrift zugänglich, über abgeheilte Verletzungen, die in der geschehenen Zeit verkettet sind. Narbenschrift ist ein anderer Name für die menschliche Haut, den Sinn der Sinne. Die Haut ist eine geschichtete Geschichte vergangener Schmerzen, die zwar (physio-)gnomisch und (panto-)mimisch, aber nicht mimetisch wahrnehmbar sind. Wahrneh-mung ist nämlich in die Welt gefaltet, wie die Welt in die Wahrnehmung (Merleau-Ponty). Beide sind ganz und gar körperlich und zeitlich. Sie stehen einander nicht - wie der absolute Geist der Neuzeit annahm und die wissenschaftlich-technische Zivilisation ausgeführt hat - gegenüber wie fertige, separate Dinge. Sie wären nichts ohne das jeweils andere, wie man heute an der Lage einer schmerzlosen Dummheit begreifen kann, die zwischen einer geistlosen Welt und einem weltlosen Geist fixiert ist. Wie aber kann aus Schmerz Wissen und aus Lust Intelligenz werden? Die Narbenschrift ist ein Effekt, keine Intention. Sie kommt nur jenseits der Grenze der menschlichen Eigenmacht zustande. Wer sie absichtlich vollstreckt, gerät gnadenlos ins Monströse. Er gerät in der Sonnenuntergangsrichtung nach Atlantis. Man braucht, vielmehr, eine Wahrnehmung, die rahmen- und randlos ist, entrüstet, vollkommen unbewaffnet, eine Blöße ohne schützende Kontexte.

Nein, es war und ist nicht Atlantis. Das von Platon, dem ersten Hinterweltler, hochgelobte Vorbild aller traditionellen Kultur, die aufs Ewige gesetzt hat. Ich dachte es eine Zeit lang, wegen der Richtung. Atlantis soll zwar im Westen gelegen haben, hat aber mit dem Okzident nichts zu tun, sondern ist eine Überbietung noch des „Ex oriente lux!“. Eine katastrophische Überbietung: Unendlich strahlend, aus gediegenem Gold, übermächtig, aber „untergegangen an einem einzigen Tag und in einer einzigen Nacht“. Was Wunder, daß die Nazi-Ideologen es zum Muster ihres tausendjährigen Reiches stilisierten. Jeder wahre Deutsche, so Hitler, habe einen Erbhof in Atlantis. Auch der Montségur, der Berg der Zuflucht, wurde von ihnen umjubelt. Am 16. März 1944, am Tag der Siebenhundertjahrfeier des Falls der Burg, fanden Formationsflüge einer deutschen Flugstaffel statt, von Himmler befohlen, um dem Sonnenkult einen adäquaten Ausdruck zu geben. In einer der Maschinen saß das Skelett des Otto Rahn aus Michelstadt, der als Pionier der Entdeckung einer glorreichen, nicht jüdisch-christlichen Vergangenheit verehrt wurde, seit er 1936 sein Buch „Kreuzzug gegen den Gral“ veröffentlicht hatte. Er selbst konnte die Ehrungen nicht aushalten, die ihm durch einen Aufenthalt in Ausschwitz und durch Teilnahme an einer Lebensborn-Aktion vergällt waren. Er brachte sich 1941 in den Bayerischen Bergen um. Die Leiche wurde beschlagnahmt und zu höheren Zwecken mißbraucht.

Wie der Kopf des heiligen Thomas von Aquin. Im frühen 14. Jahrhundert hat der Papst diese Reliquie dem Bischof von Toulouse geschenkt, damit in der Hochburg der Ketzer ein magisches Antidot errichtet werden konnte. Es hat gewirkt. Wenige Jahrzehnte später wurde der letzte Katharer öffentlich verbrannt. „Summa contra gentiles“. Der klügste Kopf der mittelalterlichen Christenheit als Mittel gegen die Abweichung, gegen die verweigerte Zugehörigkeit. Zuerst in Saint Sernin, dann bei den Jakobinern, wo das Reliquiar alle zehn Jahre gezeigt wird. Ob die anderen Jakobiner, Jahrhunderte später, ge-wußt haben, daß sie eine alte Rechnung begleichen? Haben sie eine alte Rechnung beglichen? Oder ging es doch nur um das Selbe? Um die Behauptung, daß die Sieger rechthaben und daß die Verlierer es trotz ihrer größeren Klugheit allemal nur noch bis zu einer schreienden Ungerechtigkeit bringen? - Die schwierigere, die politischere Frage ist längst die nach der Vermeidung des Schindluders? Wie läßt sich vermeiden, daß mit Leichen Politik gemacht wird? Wie läßt sich vermeiden, daß mit lebendigen und sterblichen Körpern, mit ihrem Verlangen nach Ewigkeit Politik gemacht wird? Wie läßt sich vermeiden, daß der Okzident, dieser Fall, dieser Unfall dennoch zur definitiven Orientierung benutzt wird? Meine riskante Hypothese lautet: Mit dem Verlangen nach Nicht-Ewigkeit kann man keine Politik machen. Am Lob der Sterblichkeit gehen alle Götter- und Heldensagen zu Grunde. Die Namenlosigkeit, das gut inszenierte Inkognito, das Verbleiben in der Deminenz, das „schwache Denken“ sind nicht instrumentalisierbar. Sie sind, aufs Ganze gerechnet, unbrauchbar und zu nichts nütze. Es gibt auf der Gegenseite des „Lichts aus dem Osten“ einen Schatten, der den menschlichen Körper am Leben hält, ohne dem Bedürfnis nach Religion oder nach Religionskritik nachzugeben. Das Nicht-Katastrophische, d.h. das Nicht-Fanatische aber ist der Clou solcher „Westung“: Diesseits ohne Jenseits, Gelassen-heit ohne Selbstbehauptung, Warten ohne Ziel, bemessene Zeit ohne Ewigkeit.

Den starken Katastrophen eines Weltuntergang-Szenarios, wie sie Kalifornien der sehenden Menschheit noch immer bereitet, dort an der Mauer des Pazifik, hat Hitchcocks „Vertigo“ eine eigenartige Absage erteilt. Das Schicksal eines Menschen, der Instrument eines Verbrechens ist, und zwar nicht oberflächlich, sondern im Herzen, wird mit Höhenangst und Drehschwin-del umschrieben. Man hat sich verstiegen, stürzt immerzu ab und lügt wie gedruckt. „Aus dem Reich der Toten“: Die blonde Frau, Model /Mo-dell eines fundamentalen Betrugsmanövers. Bewußte und gewollte Selbsttäuschung. Ein im Imaginären verkapseltes Leben. Der Meister hat übrigens den Turm in die „mission“ San Juan Bautista hineingeschwindelt, wie wir an Ort und Stelle erfuhren. Von dort oben stürzte zweimal dieselbe Frau, einmal im Bilde, einmal in Wirklichkeit, in Wirklichkeit jedoch zweimal im Kino. In Kalifornien, bei Höhenangst und Dreh-schwindel, endete mein Traum vom Orient, vom versöhnenden Bild. Die Liebe stammt nicht vom Zigeuner, sondern aus Arabien, aus Spanien, aus dem Süden Frankreichs. Ich meine die Liebe des Nicht-Irdischen, die Dante später in seiner „Divina Comedia“ wie eine Kiste zusammenzimmerte und die in der europäischen Romantik, im Surrealismus, in der amerikanischen Traumfabrik des Kinos auf Sarggröße gebracht wurde, für eine immer schon tote Geliebte. Der Mythos, daß mit dem Licht Triumphe gefeiert werden könnten, Triumphe über den Körper, der aus der Dämmerung kommt, aus der Nacht, aus der Sonnenunter-gangsnacht, ist in Hollywood und in Palo Alto exponiert und widerrufen worden. Durch die kalifornische Aufklärung wurde den Menschenfrau-en und den Menschenmännern das Geschlecht und das Gehirn enteignet. Die letzten großen Erfindungen im Zuge des Ewigkeitswahns: die Pille und der Computer, die Pornographie und die Weltraumfahrt haben das körperliche Begehren entfremdet, entmächtigt, entleert und als einen wüsten Ort zurückgelassen. Die Wildnis wurde abgekartet und die Welt zum bloßen Weltbild verflacht. In aller Unschuld, versteht sich. Denn die mit der konsequenten Übertreibung der cartesianischen Spaltung beschäftigten Blumenkinder Kaliforniens waren ziemlich ahnungslos. Sie haben, indem sie von Emanzi-pation sprachen, wie Hitchcocks „Scotty“ nichts von dem verstanden, was sie anrichteten. An der Mauer des Pazifik endete das europäische Weltgericht des Geistes, wie es der Mann aus Aquino, der „sizilianische Ochse“ angezettelt hatte.

Gianni Vattimo versteht unter Okzidentierung ein „schwaches Denken“, d.h. die Depotenzie-rung der europäischen Stärken. Denn ausnahmslos, so seine Grundthese, waren es die Siege, die verheerend sich auswirkten. Alle Errungenschaften, sei es des Verstandes, sei es der Vernunft, sei es der Einbildungskraft wurden über ihren Gipfel hinausgetrieben und haben sich so verkehrt. Die Produktivkräfte wurden zu Destruktivkräften, nicht etwa dadurch, daß ihr Einsatz mißlang, sondern dadurch, daß sie unheimlich erfolgreich waren. Das ist noch keineswegs zu Bewußtsein gekommen. Immer noch wird das Gerücht von den zu vermeidenden Schwächen erneuert. Immer noch will man mit dem Kopf durch die Wand. Immer noch will man Sieger sein, nun vielleicht erst recht, da es sowohl für den Menschen als auch für die Welt objektiv ruinierend ist. Europa ist an seinen positiv bewerteten Leistungen zugrundegegangen. Man mußte nichts anderes tun, als entschieden bei seiner Sache zu sein, sich ans Kreuz seiner Entschlüsse schlagen zu lassen und mit abso-luter Konsequenz die einmal gesetzten Ziele zu verfolgen. Dann war das Scheitern gewiß. Was aber nicht als Scheitern wahrgenommen wurde und wird, sondern instantan in einen Mythos der zweifelsfreien Meisterschaft umgesetzt und mit strahlendem Ruhm ausstaffiert wurde. Alle be-rühmten Leute Europas sind Gescheiterte, denen man die Nichterkenntnis ihrer „wahren“ Leistung mit falscher Anerkennung vergoldete. Das gilt selbst bei denen, die sich heftig weigerten, auf den Olymp versetzt und als Heils- und Lichtbringer verehrt zu werden. Der eingeübten Technik des Hochjubelns sind sie nicht entgan-gen. Der Sieg der Sonne über die Finsternis durfte auf keinen Fall geschmälert werden. Das pure Faktum eines abendlichen Sonnenunter-gangs ist für die europäischen Weltmeister des Lichtes buchstäblich unerträglich.

Die Frage ist also nach wie vor offen, wie eine Kritik an den hochgejubelten Stärken möglich ist, ohne sie einfach herabzusetzen. Nietzsche ahnte nicht, welche Schwierigkeiten bei der „Umwertung aller Werte“ entstehen würden. Denn die bloße Entgegensetzung ist es nicht. Die letzten werden nicht die ersten sein. Die Sünder von gestern sind nicht die Heiligen von morgen. Die Verlierer der Geschichte können nicht einfach zu neuen Herrn gemacht werden. Die Kritiker der Macht sind, wenn sie es wurden, die kritiklosen Mächtigen schlechthin. Die Ketzer werden, sobald sie das Sagen haben, unvermeidlicherweise zu Orthodoxen, die es schlimmer treiben als je zuvor. Und die aus den Kriegen der Geschichte hervorgetriebenen Schwächen sind nach wie vor mit Schimpf und Schande bedeckt, so daß man sie erst befreien müßte wie die Knochen der Ahnen vom Sedimentgestein ihrer unterirdischen Geschich-te. Worauf es vielmehr ankäme, das wäre ein anderer Umgang mit den heidnischen und christlichen Tugenden, mit Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, mit Glaube, Liebe, Hoffnung und zwar seitens derjenigen, die sowohl die Affirmation als auch die Negation der Welt, wie sie ist, hinter sich haben. Und die nun in einer Negation der Negation sich sorgsam darin üben, nicht in das sattsam bekannte Geschrey des Esels zu verfallen. Leitgestirn ist nach wie vor die Sonne, aber nicht die aufge-hende, sondern die untergehende. Wobei jedes Pathos unangebracht ist. Ein unpathetisches Scheitern, eine hingenommene Niederlage, ein Verzicht auf das Verlangen nach „Immer und Ewig“, eine leise Bereitschaft zur Para-Noia, statt weiterhin der Metaphysik zu folgen, sei es auch nur für den kurzen Augenblick ihres Sturzes (Adorno). Eine andere Wahrnehmung der kommenden Nacht wäre notwendig: Sie ist nicht das Gegenteil des Tages, sondern das, was ihn umgibt, sein undichter Behälter. So wie das Chaos die Ordnung. So wie das Unsichtba-re das Sichtbare hält als seine innere Grenze, Schnittstelle von Körper und Bild.

Das bedeutet Re-Signation, Rücknahme der Unterschrift, mehr noch Rückzug vom Außen-posten der anthropologischen Signatur, der menschlichen Zeichenmacht, die bis vor kurzem unendlich aufgebläht war. Die Devise lautet: Das, was ohnehin schon geschieht, als Effekt von Bewußtsein und Willen, aber von dort aus verleugnet, verdrängt, verworfen wird, nun mit Bewußtsein und Willen tun! Die wesentliche Unangepaßtheit der Genies und Ingenieure an die von ihnen „gemachte“ Welt endlich akzeptieren! Die unverwindbare Grenze der menschlichen Eigenmacht markieren und demarkieren! Die Verlierer haben gewonnen, aber sie wissen es noch nicht. Die übermächtige Logik der Geschichte, dieser Zwang einer homogenisierten Welt zu weiterer, endloser Homogenisierung kann nicht von der Seite der Gewinner aus verlassen werden. Die stecken im Morast ihres Omnipotenzwahns. Verlassen werden kann die Dialektik von Herr und Knecht nur von der Seite des „Knechtes“ aus, der darauf verzichtet, „Herr“ zu sein. Das kann man zum Beispiel in Sao Paulo wahrnehmen. Die permanente Aufführung des Satzes: „Niemand kann einem Herrn dienen“ (Bataille). Die performance eines Rück-schritts aus Rückschritten. Man muß lernen, heute mit zerbrochenem Kopf zu denken, wie man früher gelernt hat, mit gebrochenem Her-zen zu leben. Vielleicht ist die virtuelle Welt der Schirm, den man aufspannt, um sich ein weiteres Mal über die Niederlage hinwegzutäuschen: Ein Kopf! Ein Geist! Ein Speicher! Vielleicht ist der omnipräsente Schirm aber auch eine Bildfläche, auf der die okzidentale Wahrheit erscheint: daß nämlich das produzierte Ima-ginäre der Welt überall und jederzeit eine Kreuzigung des Realen darstellt. Sao Paulo hat längst den Beweis angetreten für den antipaulinischen Satz: „Der Geist tötet, der Buchstabe macht lebendig“.

Beim ersten Mal, im Frühjahr 1980, sind wir, ebensolche Sätze machend, von Ort zu Ort ge-fahren, die Straße von Vézelay aus durch das verschneite Zentralmassiv über die Pyrenäen, dann den Camino Francés entlang bis Santiago de Compostela, zum Heiligen Jakob vom Sternenfeld. Das zweite Mal, im Jahre 1990, reisten wir ganz innen, im Elend kommender Abschiede und ziemlich rücksichtslos gegen die Landschaften, auch gegen „El andalus“. An der Straße zwischen Cordoba und Granada, dort, wo man - nach Dalis Verrat - Frederico Garcia Lorca aufgriff, um ihn zu töten, den „andalusischen Hund“, habe ich mein Einverständnis zum Selbstmord erklärt, zum Mord am Selbst, wie er in den Jahren seither der Strategie „Altersradi-kalität“ Form und Fassung gibt. Das dritte und letzte Mal, im Frühjahr 2000, wird es nur um das Draußen gehen, um die Oberfläche der Dinge und um die Ironie, die unser Verlangen gebrochen hielt, auch schon beim ersten Mal, auch schon beim zweiten Mal. Wir werden uns wieder über Santiago hinaus begeben und uns mit dem Rücken zur aufgehenden Sonne stellen, wohlwissend, daß das Entscheidende nicht mehr durch Konfrontation geschieht. Der menschli-che Rücken, jener unsichtbare Körper, ist kein Organ, sondern Archiv und Gedächtnis der langen Menschheitsgeschichte, seitdem dieses Wesen, das wir sind, sich aufgerichtet hat. Wie kann man ein Gespür bekommen und behalten für diese Wahrheit des Körpers ohne Organe und für seine mannigfaltigen Interventionen im Feld des Sichtbaren? Wie kann man handeln, als handele man nicht? Wie kann man fühlen, als fühle man nicht? Wie kann man denken, als denke man nicht? - Es geht nicht um das „Als-Ob“, sondern um den Platzverweis, den jeder sensible Zeitgenosse heute erfährt, gesetzt, man hat ihm beigebracht, sich zu behaupten. Erst danach kann das Scheitern als Scheitern erkannt und das Niederschmetternde daran in das gediegene Material einer neuen Aufrichtig-keit verwandelt werden.

Wir wissen, daß wir einmal nicht waren. Wir wissen, daß wir einmal nicht sein werden. Aber was heißt hier wissen? Und was heißt hier wir? - Wir wissen es manchmal und keineswegs immer. Die allgemein akzeptierte Kultur des Verges-sens, die sich längst jeder Erinnerung und jeder Wiederholung sperrt, sorgt dafür, daß der zwanghafte Leerlauf der Zeit niemand ausläßt. Erst unter der ultimativen Drohung des Nicht-, des Keineswegs-, des Niemals-Gewesenseins kommt die Okzidentierung zum Zuge. Der Sonnenkult, der dem Wir aufhilft, bricht auseinander und läßt uns allein zurück. In der Okzi-dentierung gibt es kein Wir. Jeder ist einsam und allein, in Betracht des Himmels hoffnungslos und ohne ein Ohr für seine Klagen um die Unvergänglichkeit, die für immer verspielt wurde. Das ist jedoch nicht schlimm. Die Zuversicht Goethes, daß der gesamte Sonnen-bogen dem Gott gehört, kann ersetzt werden durch eine andere Gewißheit: Gottes ist der Orient, der Okzident aber gehört dem Men-schen, der nicht göttlich sein will, der zum erstenmal vielleicht mit seinem sterblichen Körper aufrecht und barhäuptig unter der Sonne steht, die Augen gegen Mitternacht gewendet. Aber vielleicht gab es auch schon einmal solche Kunde: In Galizien und in der Bretagne finden sich steinzeitliche Labyrinthe allüberall. Das Labyrinth ist kein Zeichen der Ewigkeit, kein ewiges Zeichen, also überhaupt kein Zeichen, sondern der Beweis, daß die Unsterblichkeit ein Kind der Sterblichkeit ist, daß das überzeitliche Licht aus dem Dunkel des Augenblicks stammt, daß die perfekte Vollkommenheit eine abhängige Variable des Imperfekts ist. Es ist nicht so, wie man denkt. Der absolute Geist stammt aus dem Körper. In seiner Körperlosigkeit wäre er zum ewigen Tode, zum ewigen Leben verdammt. Das jedoch hieße, nicht leben und nicht sterben können, niemehr.

Was es genau heißt, das habe ich erst spät erfahren, an der Küste Brasiliens, in Baha do Sahy, vor den „Toren“ Sao Paulos. Das Thema hieß „Küste“, oder besser die Modalität der Küste, oder noch besser „coastness“. Die Küste gebiert das Land und das Meer, dieser schmale Lebensstreifen zwischen Gestein und Ozean. Es ist in Rücksicht auf den normalisierten Augenschein genau umgekehrt: Auf wunderbare Weise ist in Sachen des Lebens das Ergebnis immer die Ursache. Es kommt erst am Ende heraus. Und der Rücken, auf dem es geschrieben steht, ist der des Anderen. Es steht nicht am Himmel. Und es ist keine Drohung, sondern der Schmerz- und Lustquell des Lebens. Die Angst hat nicht getäuscht. Der Rücken des Anderen ist der Strand. Wir sind Tiere, die wissen, daß sie einmal nicht waren und daß sie einmal nicht sein werden. Und wir wissen es in der Weise der „coastness“, der brennenden Sonne, des endlosen Wellenschlags, des angebrandeten Steins, des Sandes, der Asche. Wir wissen es, ekstatisch und bilderlos. Es gab einen lohenden Vorschein, der aus dem mittelalterlichen Ok-zitanien in den fernsten Okzident hinüberleuchtete: Miraval und Apamée, ein Filmdrehbuch, umspielt diesen größten Augenschrecken des Midi, der mir möglich war. Die Imagination der brennenden Geliebten, ehedenn Leben ist. Auch hier ein Menetekel Upharsin, Phantasmafor-schung und Sthenographie. Auch hier nicht die Spur eines Jenseits. Kein Fanatismus und keine endgültige Katastrophe. Aber der Spruch am Tor des Himmels konnte erst verstanden werden, als er in die Narbenschrift eines einzigen Rückens übersetzt war.

Otzberg im Odenwald, den 16.3.1999




Schreiben ist ein „Sich-Selbst-Fremdwerden“

Dietmar Kamper im Gespräch mit Franz Littmann


LITTMANN: Mit Ihrer These, daß die Hauptlinie der Zivilisation keine Steigerung des Mensch-lichen bedeutet, sondern im Gegenteil eine Vernichtung der Menschheit droht, stehen Sie mittlerweile nicht mehr so alleine da wie vor ungefähr 20 Jahren. Zur Zeit arbeiten Sie an einer genaueren Bestimmung des Essays. Stellen diese Bemühungen den Versuch dar, die verhängnisvolle Hauptlinie zu verlassen?

KAMPER: Das Menschliche ist an seine Grenzen gestoßen. Ich meine, daß die Be-Hauptung der Humanität allmählich zu einer monströsen Grundhaltung wird. Es ist etwas Unberechenbares in Gang gekommen. Dieses Unberechenbare, das sich als Effekt einer Forcierung des Humanen erweist, läßt sich erfassen mit der Formel: Der Mensch ist monströs. Damit ist gemeint: ohne Kultur, ohne Natur. Der Vorgang selbst kristallisiert sich in der Selbst-Behauptung. Das sich behauptende Selbst ist wahrscheinlich das Monstrum. Der Übergang von der Humanität zur Inhumanität geschieht durch Steigerung des Selbst; durch Be-Hauptung - wobei man diesen Begriff wörtlich nehmen muß: das Behaupten ist eine körperlose, körperfeindliche, rein geistige Ange-legenheit. Wer dergleichen zu beschreiben versucht, gerät in unwegsames Gelände. Das Unbestimmte, Ungefähre, Unberechenbare wird zum Sujet. Der Essay ist vielleicht eine Art Protokoll dieses Unternehmens. Voraussetzung dafür: man darf auf seine Sinne, seine eigene Körperlichkeit nicht verzichten. Das heißt also, essayistisches Schreiben unternimmt den Versuch der Entselbstung, d.h. es geht weg vom Geist, von der abstrakten Vernunft, geht zurück zur Sinnlichkeit und zur Körperlichkeit. Daß dieses Experiment schreibend gelingen soll, ist nur scheinbar eine Paradoxie. Schreiben ist eine der kompliziertesten menschlichen Körperleistun-gen. Bei der Ausarbeitung dieser komplizierten Leistung (vgl. Michel Serres: Die fünf Sinne, Suhrkamp, 1993) stößt man auf die Fähigkeit, das Körperliche, das Sinnliche zu reaktivieren. Schreiben ist gleichzeitig die letzte und komplizierteste Tätigkeit eines Körpers, der das Diktat des Geistes abzulegen versucht. Was die von Ihnen angesprochene Hauptlinie angeht, so handelt es sich um Entwicklungen, die alle viel mit Verkopfungen zu tun haben. Sie haben ein "Haupt" hervorgebracht; das "cap" (Haupt, Kopf, Ziel, Spitze), Kapital, Kapitale, Hauptstadt usw. sind vorrangig geworden. Kritisiert man diesen Kurs, diese Linie, die mittlerweile verhängnisvoll und selbst kritisch geworden ist, kommt man zwangsläufig zu Antworten auf die Frage, ob ein Denken ohne Körper nicht per se unmenschlich ist, eben monströs. Ein solches Denken grenzt immer ans Verbrechen, schlußfolgert Lyotard unter Hinweis auf die perfekte Organisation der KZ.

LITTMANN: Wenn der Hauptgegner der Kopf ist bzw. sein zwanghaft agierender Vernichtungs-wille, braucht man Mittel und Wege, um diesen schachmatt zu setzen. Ist der Essay dafür ein taugliches Instrument?

KAMPER: Falls meine Annahme zutrifft, daß das Schreiben das Sich-Selbst-Fremdwerden veranlaßt - und nicht der Selbst-Erkenntnis, der Selbst-Behauptung dient - dann kann der Essay durchaus ein taugliches Instrument sein. Auch deswegen, weil die gewohnten Formen des Schreibens (literarische, wissenschaftliche) im Dienste der Macht allzusehr zugerichtet und methodisch überformt sind. Das Dritte, das sich „zwischen" Literatur und Wissenschaft bewegt, bietet eine Chance, weil es nicht gekonnt ist.

LITTMANN: Sie bringen den Essay häufig in Verbindung mit Zeitgenossenschaft, Raum für viele unterschiedliche Stimmen, Selbstverges-senheit statt Autopoiesis usw.

KAMPER: Es gibt eine mächtige Schreibtradi-tion sehr allgemeiner Art. Im Begriff "Graphie" (z.B. in Geographie) ist offenkundig, daß es sich um eine Form der Herrschaft handelte (und handelt). Diese Art von Schrift war also vor allem eine Markierung eines unbeschriebenen Feldes, die Herrschaft ausübte in jeder Hinsicht. Nicht nur der Räume. Sie hat schließlich zu einer Ruinierung und Vernichtung der Lebensräume geführt, deren Ausmaß noch unklar ist. Wir leben buchstäblich in den Ruinen der Raum-okkupation durch Schrift. Aus dieser Erfahrung heraus schlage ich eine Wendung vor. Vordringlich erscheint mir dabei das Umsteigen vom Raum in die Zeit, was seinerseits keine Herrschaft mehr sein kann, sondern im Gegenteil eine freiwillige Unterwerfung unter Zeitgesetze: Rhythmen, Drehbewegungen, Durchbrüche usw. Für wesentlich halte ich, daß diese Wendung mit einer Selbstruinierung zu tun haben muß. Dreimal unterstreichen möchte ich in diesem Zusammenhang den Satz von Bataille: ?Niemand kann erkennen und sich zugleich vor der Vernichtung bewahren." In der wissenschaftstheoretischen Debatte herrscht immer noch die Überlebensstrategie vor, bei der sich der Erkennende in Sicherheit bringt. Man baut immer noch heftig an den Verteidigungs-anlagen gegen die Unerträglichkeit der Welt.

LITTMANN: Wie hängt die Frage des "rechten Lebens" mit dem Essay zusammen? Gibt es eine Verwandtschaft mit dem Esprit?

KAMPER: Das Wort Essay hat eine sehr spannende Geschichte. Es beruht auf dem altfranzösischen "asag". In der Minnekultur bezeichnete man damit die äußerste Probe, ob es ein Liebhaber auch ernst meint. Zu diesem Zweck mußte er eine Nacht lang nackt das Lager mit seiner Geliebten teilen, ohne den Akt zu vollziehen. Wenn ihm das gelang, wurde er für Weiteres akzeptiert (Rene Nelli: Leben und Werke der Troubadoure). Ich glaube, daß auch das essayistische Schreiben eine ähnliche Probe und insofern eine Übung im ?rechten Leben" darstellt. Das essayistische Schreiben ebenso wie das "rechte Leben? fordern ein Verhältnis zu dem, was es gibt, das nicht auf rücksichtsloses Unterwerfen, Vergewaltigung aus ist, sondern eine liebende Aufmerksamkeit darstellt, die sich notfalls auch zum Abbruch der Erkenntnis bereiterklärt. Was die Verwandt-schaft von Essay und Esprit anbetrifft, so kann man darüber bei Montaigne nachlesen. In seiner Auffassung einer experimentellen Anthropologie in eigener Sache - so nannte er den Essay - stehen sich beide sehr nahe. Geist, Esprit waren noch nicht Macht, Kontrolle, Vernichtung.

LITTMANN: Der Essay fordert nach Ihrer Ansicht ein Schreiben, das wie Reisen vorgeht, wie Reisen in Raum und Zeit. Gibt es einen Bezug zum Film?

KAMPER: Der Essay ist gewiß eine "Zeitkunst", d.h. seinem Charakter nach eine Bewegung in der Zeit. Wie das Theater, Ballett, Film, Hörspiel und Musik. Aber das ist nur eine sehr allgemeine Bestimmung. Im Spezifischen und ganz konkret bedingt die Zeitunterwerfung ein Hören-können auf den Anderen, wie er als ebenso zeitlich gestimmter in meine Zeit interveniert. Essays sind immer Antworten, die in einer über eine lange Zeit hinweg reichende Zeitgenossenschaft begründet sind. Man kann sagen, daß wir heute noch auf Montaigne antworten. Und gleichzeitig Fragen nachschieben, auf die Montaigne bereits geantwortet hat, ohne unsere Fragen zu kennen. Alle grollen Essayisten und solche, die es werden wollen, fangen nie am Punkt Null an, sondern sind in ein Antwort-geschehen eingelassen, das auch für die Zukunft unabgeschlossen ist.

LITTMANN: Für den Essay braucht man also eine Schulung. Oder ist er eine Kunst, bei der man nichts können darf?

KAMPER: Walter Benjamin hat, wie man weiß, behauptet, daß das Sich-Zurechtfinden in einer Stadt nicht viel heißt. Daß aber die Verirrung, also sich in einer Stadt zu verirren, wie man im Wald sich verirrt, Schulung braucht. Es ist auffallend, daß fast alle Essayisten das prekäre Verhältnis zu ihrer eigenen Kindheit thematisieren, d.h. als Fundus der Bilder benutzen.
Es scheint, als ob nicht nur die Kinder einer Generation, sondern aller Generationen zusammengehören. Und zwar in ihrer konstitutionellen Hilflosigkeit, in der anthropologisch sogenannten "Frühgeburtlichkeit". Elend und Größe des Menschen sind insofern mit der Geburt bestimmt. Wenn es Erinnerungen an diese ?Frühzeit" gibt, dann ist es immer der Übergang vom "infans"-Stadium (d.h. Ieben, aber nicht sprechen können) zur Aneignung der Sprache, was eine Wiederholung (im doppelten Sinne) darstellt. Kinder müssen eine Sprache, die es schon lange gibt, immer wieder neu erfinden, was auch im späteren Leben eine unüberbietbare Situation bedeutet. Sprechen lernen, Sprache erfinden in einer sprachlos gewordenen Welt, das ist der Essay. Erinnerung bzw. Wieder-holung der Kindheit durch den Essayschreiber ist eine Weise, wie der Traum der Gattung geträumt und wie die Geschichte nach rückwärts und vorwärts als unabschließbar gedacht und gelebt werden kann. Insofern gibt es nur ein Kriterium für essayistisches Schreiben, das die Zwangsläufigkeiten im Monströswerden der Welt unterbrechen kann:
Der Essay muß das genaueste Dokument des lebendigen Zusammenhangs der erwachsenen Menschen untereinander sein. Erst die Erinne-rung bzw. Wiederholung dieses Zusammen-hangs erlaubt den Brückenschlag zurück in die Kindheit, in die eigene und in die der Gattung. Wenn ich recht sehe, hat Robert Musil mit seinem "Erdensekretariat für Genauigkeit und Seele" nichts anderes gemeint.