© Bernd Erich Gall · 2004/5 · gall@bernderichgall.de





4



»Du machst dir zu viele Gedanken. Das wird sich alles zeigen. Und außerdem ist dein Examen noch in weiter Ferne.«
Rias Wohnung liegt gleich neben den Bahngleisen. Korn mag den Lärm vorbeifahrender Züge.
»Da hast du ja ganz schön Glück gehabt mit deiner Mappe. Mein Gott, wenn ich nur daran denke! – Und du hast sie alle wieder eingesammelt?«
Ria antwortet nicht. Sie weiß, dass alles nur ein Ablenkungsmanöver ist. Bestimmt fängt er gleich wieder an, eine seiner Lügengeschichten zu erzählen. Das macht er immer dann, wenn er der Situation nicht mehr gewachsen ist.
»Hab’ ich dir eigentlich schon von Max erzählt, meinem Schulfreund?«
»Und das mit Lisa? Wir waren noch nicht am Ende.«
Ria fixiert ihn, lässt ihn nicht aus den Augen. Unruhig tritt er von einem Bein auf das andere, nimmt einen Schluck aus der Flasche und lässt sich auf den Sessel fallen.
»Ja, wie gesagt, das Ganze hört sich ziemlich ungewöhnlich an. - Ja genau, es ist eine haarsträubende Geschichte, eine ziemlich haarsträubende Geschichte.«

Korn hängt hilflos im Sessel. Er wagt einen Blick, Ria erwidert ihn und bekommt Mitleid. Auf eine haarsträubende Geschichte mehr oder weniger kommt es ihr nicht an. Sie lehnt sich bequem zurück, wirft einen Blick auf ihre Fingernägel, und schlägt ihre Beine übereinander.
»So, dann leg schon los. Aber versprich mir, dass wir hinterher zum Chinesen an der Ecke gehen.«
»Hast du was gesagt, Ria?«
»Ich? Nein, nicht wirklich. Und was ist mit deiner Geschichte?«
»Max Baldinger – ich kenne ihn seit meiner Jugend.«
Korn fühlt sich unwohl. Ein Schluck aus der Flasche gibt ihm etwas Sicherheit. Er holt tief Luft.
»Wir saßen in der Schule nebeneinander, waren unzertrennliche Freunde. Er stammte aus einem ärmlichen Elternhaus. Sein Vater war ein Gelegenheitsarbeiter, seine Mutter sang im Kirchenchor. Und trotzdem, es fehlte ihm an nichts. Seine Eltern hatten beide ein großes Herz. Sein bescheidenes, zurückhaltendes Wesen machte ihn bei allen beliebt. Tief in seinem Innern jedoch schlummerte ein Träumer und Visionist.
Und dann war da diese Sache mit dem Sport. Alle an der Schule wussten es. Er war ein begabter Hoch- und Weitspringer, der Schulbeste, und das bereits in der Mittelstufe. Bald stritten sich die Vereine um ihn.«
»Hoch- und Weitspringer? – Merkwürdige Kombination.«
»Was meinst du? – Ich hab dich nicht richtig verstanden.«
»Nicht so wichtig. Nun mach schon, wie geht die Geschichte weiter?«
»Er sprang von einem Sieg zum andern. Die Lokalzeitungen waren ihm auf den Versen. Na, ja, der Junge hatte es geschafft. Sein Bild war in der Zeitung, fast jede Woche. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Bei einem Interview kündigte er an, von einer Brücke zu springen ...«
»Brücke? – Wollte er sich umbringen?«
»Nein, im Gegenteil, dieser Sprung aus ungefähr 20 Meter Höhe war die logische Konsequenz seiner bisherigen Springerei.«
»Und unten war Wasser?«
»Gras.«
»So ein Quatsch! 20 Meter. Du denkst wohl, du kannst mich verarschen. Du willst von dem Gespräch über Lisa ablenken. Hab ich recht? Ich bin auf der Hut, klar, diesmal bin ich auf der Hut!«
»Ach was, darum geht es doch nicht. 20 Meter von einer Brücke auf eine Wiese. Warst du schon mal auf dem 10er-Sprungbrett im Schwimmbad? Meine Fresse, und das sind nur 10 Meter. Verstehst du, was ich meine?«
»Und, hat er es überlebt?
»Hat er, und wie er es überlebt hat. Das Ganze war ein unvergessliches Ereignis. Er sprang, landete und stand auf. Natürlich jubelten alle. Es war wie auf dem Jahrmarkt. Doch insgeheim warfen sie ihm schräge Blicke zu. Und das blieb so, auch in den Wochen danach ...«

Die Küchentür fällt ins Schloss. Ria hat das Zimmer verlassen. Sie möchte zum Chinesen an der Ecke. Morgen ist auch noch ein Tag, doch es kommt immer darauf an. Ficken ist nicht ihre Stärke.
»Mal sehen. Morgen. Diese junge Göre scheint ihm den Kopf zu verdrehen.«




5



»Und sie ist wirklich nur eine gute Freundin?«
»Eine sehr gute Freundin«, lautet die Antwort. Korn schnalzt verlegen mit der Zunge. Er wirft Lisa einen verstohlenen Blick zu und bohrt in der Nase.
»Was machst du denn da? – Sieht ja eklig aus.«
»Verzeihung, ist keine Absicht. – Hast du Hunger?«
Keine Antwort.
»Und dieser Jonas ist also dein Mann. - Jonas, klingt irgendwie nach Kirche.«
»Und Peter, wie klingt das?«
»Du warst mit 18 bereits verheiratet? - Meine Güte, da hast du dich aber ganz schön rangehalten.«
»Und du bohrst zu oft in der Nase.«
Korn wird verlegen. Er versucht sich hinter seinen unförmigen Bewegungen zu verstecken. Es gelingt ihm nicht. Ein schüchterner Blick zu Lisa bringt ihn wieder zur Besinnung. Er hat Lust mit ihr zu ficken. Sie hat ganz schön was zu bieten. Das weiß er, denn sie haben’s längst miteinander getrieben, gleich in der zweiten Nacht. Wie zwei läufige Hunde sind sie übereinander hergefallen. Ria darf davon nichts erfahren.




6



Jonas blickt hinüber zum Bahnhof. Merkwürdige Gedanken gehen ihm durch den Kopf. Er sieht die Kinder auf der Bahnüberführung, und sie werfen Papierblätter auf die Gleise.
»Unter Einhaltung der Spielregeln ist nichts Gefährliches dabei.«
Sein dunkles, lockiges Haar fällt weich auf seine Schultern. Er setzt sich in Bewegung und stolziert in Richtung Café.
»Na du Penner, hast du die Mäuse dabei?«
Er schaut sich um. - Da ist niemand. Stimmen haben nichts zu bedeuten. Er beschleunigt seine Schritte. Das Geld hat er nicht, heute nicht.
»Klar, morgen, sieht alles ganz anders aus.«
Das Doppelte liegt drin, wenn er es ihm heute umsonst gibt.
Seit Lisa abgehauen ist, hat er Schwierigkeiten an Stoff ranzukommen. Für sie war alles einfacher.
»Sie hat’s immer draufgehabt, und wie sie es draufgehabt hat. Mein Güte, sie wusste, wie man an Stoff rankommt.«
»Das Doppelte liegt drin, verstehst du - und gleich morgen. - Morgen, du weißt schon, wie immer.«
»Halt die Fresse und verschwinde - und bring beim nächsten Mal deine Kleine mit! - Klar, halber Preis. Also, mach ‘ne Fliege!«
Jonas sieht sich um. Da ist niemand. Die Szenerie in der Bahnhofshalle kommt ihm sonderbar vor. Was auch geschieht, es hat nichts mit ihm zu tun. Ein Kommen und Gehen.
»Kümmere dich um die Kohle!« hallt es ihm in den Ohren. Er setzt sich in Bewegung und verschwindet in der Menge.