Die Haare einer Fremden



Von Bernd Erich Gall

Ich glaube an die Fama vom theatralischen Ableben eines Geschlechts, das sich seiner Großmutter nicht mehr erinnert.

Der Zug fährt in meinem Rücken und vor mir hängt diese Tasche. Sie ist hässlich, geschmacklos, aus billigem Plastik und erinnert an eine Tischdecke. Schwindelig wird mir, denn meine Blicke drehen sich im Kreis, von der hübschen Blonden über jene Tasche zu deren bärtigem Besitzer und wieder zurück. Der Bärtige schläft, die Blonde liest und ich beschäftige mich mit meinem Brotbeutel.

Plötzlich fühle ich einen spitzen Gegenstand. Ich grabe tiefer, bekomme ihn zu fassen und befördere ihn ans Licht. Mein Blick fällt auf eine rostige Nagelschere - ein Erbstück meiner Großmutter. Ich lächle und überspiele damit den Glockenschlag meines Handys.
Der Zug fährt immer noch in meinem Rücken und der Bärtige schnarcht in die Haare der Blonden.

Und dann kommt mir so ein Gedanke:
»Ein goldenes Löckchen von der Blonden - wie in alten Zeiten.«
Ich beuge mich nach vorn und agiere unauffällig. Da die Blonde in ihre Zeitschrift vertieft ist, gelingt mein Vorhaben auf Anhieb. - Plötzlich geht ein Ruckeln durchs Abteil. Schere und Locke gleiten mir aus der Hand und fallen zu Boden. Der Bärtige erwacht. Elendig hustet er vor sich hin. Er entdeckt die Nagelschere und die Haarlocke vor seinen Füßen, räuspert sich, blickt in die Runde und greift danach. Just in diesem Moment äugt die Blonde über den Zeitschriftenrand, fasst sich entsetzt ans Haar, springt auf und brüllt:
»Unerhört!«
Mit voller Wucht verpasst sie dem Bärtigen eine Backpfeife, packt ihre sieben Sachen und stürmt aus dem Abteil. Ich springe ebenfalls auf, entreiße dem Bärtigen die Nagelschere samt Locke und belle ziemlich überdreht:
»Unglaublich, unglaublich!«
Dann verlasse ich ebenfalls das Abteil.

Ich kann mich an so manche Backpfeife meiner Großmutter erinnern, aber was mir noch mehr in Erinnerung ist, ist ihre abgrundtiefe Abneigung gegenüber billigen, hässlichen Taschen, und so habe seit jenem Ereignis den leisen Verdacht, dass irgendetwas von ihr in besagter Nagelschere weiterlebt. - Was den Bärtigen angeht: Selbst Schuld, man schnarcht nicht in die Haare einer Fremden.



Bernd Erich Gall: Malbuch eines Idioten, 2006 · 06-03-15 · © www.bernderichgall.de