Schalengeburt



Von Bernd Erich Gall


Meine Geburt war etwas Besonderes. Bereits Monate vorher sah ich die Bilder meiner künftigen Umgebung - zwar blass und verschwommen, jedoch deutlich genug, um mehr als eine Ahnung zu besitzen. Diesen Umstand verdankte ich der an sich unnatürlich dünnen Schale meiner Geburtskammer, die wiederum eine Folge der schlechten Ernährung meiner Mutter war. Die Kriegsjahre hatten schwer an ihr gezehrt, und so konnte sie mir nicht das zukommen lassen, was unter normalen Umständen ihre Schuldigkeit gewesen wäre.

Ich sehe den Tag mein Geburt heute deutlich vor mir. Obwohl da nur ein bescheidener Freiraum war, gelang es mir, durch stetiges Reiben meiner Nase an der kalkigen Innenschale, deren Transparenz zu erreichen. Während der folgenden Tage musste ich mich zunächst an die Helligkeit gewöhnen. Schließlich konzentrierte ich mich und drückte mit der geballten Kraft eines reifen Embryos nach außen. Draußen erwartete mich eine Unmenge fremder, quietschender Gesichter. Man besah und bestaunte mich von allen Seiten, dabei wanderte ich von Hand zu Hand und roch diesen salzigen, klebrigen Schweiß. Alles war mir fremd, selbst der Atem meiner Mutter, und doch fühlte ich nichts.

Dann kam die Zeit der weißen Farben. Weiß war die Farbe der Wände, der Tische und Stühle, und weiß war die Farbe der Männer und Frauen. Für letztere war ich Objekt und Gott zugleich. Sie banden mich an ihre Maschinen und ließen mich meine Einmaligkeit spüren. Dass ich geschlüpft war und nicht geboren wurde, begründete ihr unermessliches Interesse. Bald sahen sie in mir ein Relikt der Urzeit, bald einen verheißungsvollen Boten einer unausweichlichen Zukunft. Wenngleich es mir an nichts mangelte, ahnte ich, dass da mehr war, und nach dort zog es mich.

Ich wanderte durch Städte und Dörfer und sah vieles, zu vieles um länger unter Menschen zu sein. Ich zog ich mich zurück in die Berge und Wälder und fand dort ein Refugium der Einsamkeit, der Gedanken und Gefühle. Meine Lebensweise war der der Tiere ähnlich, und so wunderte ich mich recht wenig über die ersten Federn auf meiner Brust - auch nicht, als ich mein erstes Nest zusammentrug und brütete. Ich unterwarf mich meinem Instinkt und erfüllte die mir auferlegte Pflicht.

Seitdem sind viele Jahre vergangen, und ich brüte noch immer. Auch wenn bislang noch niemand geschlüpft ist, bin ich recht zuversichtlich. Doch bis dahin lastet der Fluch der Einmaligkeit auf mir.

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