Willie, das Bakterium




Von Bernd Erich Gall


In meinem rechten Auge lebt ein stabförmiges Bakterium, das immer dann sichtbar wird, wenn ich das Auge geschlossen gegen die Sonne richte. Es schwimmt dann in einer trüben Milch und grüßt mich höflich. Ich kenne es schon lange, viele Jahre, und wie alles, das man lange kennt, hat es einen Namen, und der lautet Willie.


Als Bakterium ist Willie eine Besonderheit, denn er hat es geschafft, sich so ins Bild zu setzen, dass man, vielmehr ich ihn mit bloßem Auge sehen kann. Welch ein Bakterium kann das schon von sich behaupten, zumal es in dessen Natur liegt, unerkannt zu bleiben.

In der Pfütze meines Auges schwimmt Willie tagtäglich, sichtbar oder nicht, hin und her und her und hin, so aufs Geratewohl. Dabei vollführt er Bocksprünge und alfanzt lustig, dass es eine Freude ist, ihm zuzusehen. Sollte man doch meinen, dass es ihm an Abwechslung fehle - weit daneben, denn Willie ist der Typ Mikroorganismus, der sämtliche Lebenssituationen mit Bravour meistert, auch die vermeintliche Gefangenschaft in meiner Tränenpfütze.

Ich weiß eine ganze Menge über ihn, so zum Beispiel, dass er sich in die Iris, die Regenbogenhaut meines Auges verliebt hat. Auch sie war ihm von Anfang an verfallen, nicht zuletzt, da sie selbst jahrelang eine Gefangene, die der Netzhaut war, und Willie eine ganz neue Art der Gefangenschaft ihr zum Lebensinhalt machte. - Nein, er ist kein Frauenheld, vielmehr ist er der Typ eines introvertierten Lebens-künstlers, der gelegentlich Identitätsprobleme hat, nicht mehr und nicht weniger.

Für mich, und das sage ich ganz offen, ist er zur unersetzlichen Symbiose geworden. Sein Naturell ist die zwingende Ergänzung des meinigen. In Momenten der Schwermut, der Angst oder Launenhaftigkeit schließe ich einfach die Augen und wende mich zur Sonne, und schon bin ich bei ihm, meinem Willie, dem Bakterium und erfreue mich seinem verwegenen Lebensglück, denn wer es schafft, in einer Pfütze von Tränen heitere Kapriolen zu schlagen, der ist und bleibt der rechte Lebenspartner allemal.

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