Bernd Erich Gall: wo-men II. A look that´s fine and dandy. - Katalog,
4-farb., 42 S., 1995.


Das Fremde oder vom Scheitern der Vernunft · Entrückung

Von Franz Littmann

Wo-men - und damit beginnt bereits das Unbehagen, hervorgerufen durch Unbe-stimmtheit und Irritation. Wo und wer ist er/sie überhaupt? Eine Frau - eine Frau im Mann - alle Frauen?
Das Fremde (der Sprache, der Titel - A look that´s fine and dandy) ist bei Bernd Erich Gall dazu bestimmt, sowohl den Kurs als auch die Entfernung seiner "schizophrenen" Malerei anzugeben. Sein gesamtes Kunstmachen ist durch das Duell zwischen absoluter Vertrautheit und absoluter Fremdheit beherrscht. Wer bin ich, wenn Ich ein anderer ist (Rimbaud), und wer bist Du, wenn Du so wenig und so sehr Ich bist, wie das Ich Ich ist? Diese noch lange nicht liqui-dierte Grundfrage zum Selbst bzw. seinem Bewußtsein ist trotz der fünffachen Hinterfragungs- und Entzauberungsarbeit von Marx, Darwin, Nietzsche, Freud und der modernen Neurobiologie (Chaosforschung) zwar als Ablaß für Allmachtsfantasien entlarvt - aber deshalb noch lange nicht erledigt.
In der aktuellen Kunst wird sie nicht nur aus modischen Gründen immer wieder mit Vehemenz thematisiert. Das hat viel mit dem Scheitern der Vernunft auf allen Gebieten zu tun aber auch mit der wachsenden Bereitschaft, auf das andere der Vernunft, auf den körperlichen Ausdruck zu hören.

Ein Experte für Selbsterfahrung (außerhalb der Selbstreferenz) ist Bernd Erich Gall. Er malt sein gespaltenes Selbst: Es ist bei ihm männlich und weiblich zugleich. Vielfältig, fragmentiert, zerrissen und anonym stellt er sein anderes Selbst auf seinen Bildern dar. Seine langgezogenen, androgynen, kantigen, obskuren Frauenkörper splitten sich auf, haben oft ein Double, splitten sich wieder auf - solange, bis man nichts anderes mehr sieht. Immer jedoch konfrontieren sie den Betrachter mit ihrem medusenhaften Blick. Hände und Gliedmaßen sind überdimensioniert, die Gestik der Körperpartialitäten suggerieren Hochspannung. Die Bilder sprechen von einem Zustand, in dem der Mensch die eigene Normalität in das eigene Unbekannte überschreitet. Dort, im Anderen blitzt Androgynes, Totes und Lebendiges, Abweisendes und Einnehmendes, Laszivi-tät und Morbidität.
Die mit Öl auf Leinwand gespachtelte double-bind-Struktur des Anderen ist bei Bernd Erich Gall etwas Undenkbares. Es ist das Fremde im Selbst, das in den Anfangszeiten der mensch-lichen Existenz das Ich aus sich selbst fortreißt. In der Verschmelzung mit dem Göttlichen, in der Erotik aber auch im Schrecken der Geistesverwirrung wird diese Entrückung wiederholt. Bei Bernd Erich Gall ist dieser Anfang "jederzeit". Irgendwie ist er damit seiner Zeit voraus.